Sternthal, Alfred

 

geb. 25. September 1862 in Köthen (Anhalt)

gest. 24. April 1942 in Chicago (USA)

Dermatologe, Kämpfer für öffentliche Gesundheitspflege, Pionier der dermatologischen Strahlentherapie

© Rudolf G. A. Fricke

               

Er entstammte einem im Anhaltischen alt eingesessenen Familiengeschlecht, das sich noch bis zur napoleonischen Zeit Falke genannt hatte. Seine frühe Kindheit verlebte er in Köthen, zum Teil von seinen Eltern, Hermann Sternthal (1837-1904) und Ehefrau Adelheid (1831-1912), geborene Rothgießer, getrennt, im Haushalt eines Großonkels. Die Trennung von den Eltern kam 1865 zustande, als diese aus beruflichen Gründen nach Leipzig zogen, der kinderlos gebliebene Großonkel und dessen Ehefrau, bei denen die Familie bis dahin gewohnt hatte, den Jungen aber unbedingt bei sich behalten wollten. Als der Großonkel 1870 starb, holten die Eltern ihren Alfred wieder zu sich. Die Familie war zwischenzeitlich um zwei weitere Kinder angewachsen: Oscar, 1863 noch vor dem Umzug in Köthen geboren, und Felix, 1869 in Leipzig geboren. 

Von seinem Großonkel wurde Alfred Sternthal im Alter von 5½ Jahren in die Elementarklasse des Köthener Gymnasiums eingeschult. Bei seinem Aufenthaltswechsel nach Leipzig meldete ihn der Vater in der Bürgerschule[1] an. Ein Jahr darauf wechselte er an die Realschule I. Ordnung[2]. Weil es entgegen der lange gehegten Annahme an der Schule dann doch nicht möglich war das Abitur zu erlangen, wechselte Alfred Sternthal Ostern 1877 auf das Leipziger Nicolai-Gymnasium. Hier erlangte er 1882 das Abitur und wandte sich in Leipzig dem Medizinstudium zu. 

Wegen einer anhaltend schlechten Geschäftslage des im Weinhandel tätigen Vaters, wanderte dieser 1879 in die USA aus. Seinen jüngsten Sohn Felix holte er 1883 zu sich nach Chikago. Die Mutter folgte erst, nachdem Alfred Sternthal sein medizinischen Vorexamen absolviert hatte und als Assistenzarzt tätig wurde. Bruder Oskar hatte sich beruflich dem Theaterschauspiel zugewandt und blieb in Leipzig ansässig. 

„Meine Studienzeit fiel in die interessante Zeit der sich entwickelnden Bakteriologie“, schrieb Alfred Sternthal in seinen Lebenserinnerungen[3]. In der Assistentenzeit spezialisierte er sich auf dem Gebiet der Chirurgie und vor allem der Dermatologie. Das Jahr 1887 wurde dann ein ereignisdichtes Jahr für ihn: Nach der Absolvierung des Staatsexamens erhielt er seine Approbation, er promovierte mit einer Dissertation über „Die Beschaffenheit der Luft im Neuen Leipziger Stadttheater“[4], er verheiratete sich mit Martha Loewentstein (geb. 1858) und er ließ sich in Braunschweig als Dermatologe nieder.


Blick vom Kohlmarkt auf die Einmündung Hutfiltern.

Wohnung und Praxis richten sich die Sternthals mitten in der Stadt, im Haus Damm 12 ein. 1889, die jungen Eheleute erwarten ihr erstes Kind – es wird ein Junge und erhält den Namen Friedrich – bezog man größere Räumlichkeiten in der Friedrich-Wilhelm-Straße 19. Nachdem sich 1895 mit Tochter Ilse die Familie weiter vergrößert hatte und es mit dem Wohnraum doch recht beengt wurde, zogen Sternthals 1898 an die Wolfenbütteler Straße 58. Man war zunächst skeptisch ob diese Entscheidung sich mit der Praxis in eine (damals) städtische Randlage zu begeben klug war, aber, wie Alfred Sternthal in seinen Lebenserinnerungen bemerkt, nahm jetzt der ohnehin bereits komfortable Patientenzustrom sogar noch zu. 1902 musste man die Räumlichkeiten wieder aufgeben, weil sie vom Vermieter für den Eigenbedarf beansprucht wurden. Man fand zunächst eine neue Bleibe am Löwenwall 1. Die Situation dort erwies sich aber zunehmend als unbefriedigend und so erwarben Sternthals schließlich 1908 eine Villa an der Hennebergstraße 14, die nach einigen Um- und Anbauten reichlich Wohnraum und Platz für die Belange der Arztpraxis bot.

Einen Einschnitt in das glückliche Familienleben bedeutete 1911 der Tod von Martha Sternthal, der ganz unerwartet während eines Urlaubsaufenthaltes in der Schweiz nach einem Schlaganfall eintrat. Paula Edelstein (1869-1942), eine langjährige gute Bekannte der Familie übernahm bei Sternthals die Haushaltsführung. 1914 wurde sie Alfred Sternthals zweite Ehefrau. Der Sohn Friedrich promovierte später auf dem Gebiet der Nationalökonomie und arbeitete als Journalist. Die Tochter Ilse entwickelte sich zu einer musikkünstlerischen Persönlichkeit. Sie organisierte beispielsweise regelmäßig in ihrem Elternhaus stattfindende Kammermusikabende, wofür sie angesehenste Musiker engagierte, aber auch selbst als Pianistin agierte. Sie heiratete 1919 den Arzt Paul Tachau (1887-1949) aus Wolfenbüttel.

Als Arzt engagierte sich Alfred Sternthal in regionalen Ärzteverbänden, beispielsweise im »Kreisverein« und im »Verein für öffentliche Gesundheitspflege«[5] aber auch überregional, so im »Deutschen Verein zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten«. Im Rahmen der vom 19.-26. September 1897 in Braunschweig stattfindenden ‘69. Versammlung Deutscher Naturforscher und Aerzte‘ übernahm er die Organisation der Sektionsveranstaltungen der Dermatologen.

Mit einer intensiv betriebenen Aufklärungsarbeit, mit der er die Bekämpfung von Geschlechtskrankheiten verfolgte, gelangte er zu besonderer gesellschaftlicher Beachtung und medizingeschichtlicher Bedeutung. Dabei beschritt er in Braunschweig ganz mutige, moderne Wege, indem er sich allen Widerständen der Prüderie widersetzend, mit Vorträgen und Schriften an die Öffentlichkeit ging, bis hin zu Kirchenkreisen und den Schulen. Ein Zeitzeuge[6] schrieb: „In gemeinsamer Arbeit mit dem Kreisphysikus Dr. med. Roth bekämpfte er mit Erfolg eine ausgedehnte Epidemie von Mikrosporie in den Bürgerschulen. Trotz der damals herrschenden Prüderie leitete er eine aufklärende Pioniertätigkeit in der Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten mit einem begeistert aufgenommenen Vortrag im Gemeindehaus der Katharinen-Gemeinde ein.“ In jedem Jahr hielt er ab 1906 vor den Abiturklassen der höheren Schulen den Aufklärungsvortrag „Geleitworte zur Fahrt in das Leben“. Für die Schülerhand verfasste er kleine Aufklärungsschriften, die dann seitens des braunschweigischen Unterrichtsministeriums flächendeckend in den Schulen des Landes verteilt wurden. Vor einer Versammlung von Volksschullehrern warb er am 10. September 1907 mit dem Vortrag „Sexuelle Aufklärung in der Volksschule; eine Zeitfrage“ für die obligatorische Einführung von Aufklärungsunterricht.

Auch den renommierten Braunschweiger Verein für Naturwissenschaft, dem er ab dem 16.12.1897 als Mitglied angehörte, nutzte Sternthal für seine Aufklärungsarbeit. Immer wieder, so ist den Vereinsmitteilungen zu entnehmen, referierte er vor der Mitgliederschaft mit entsprechenden Themen:

6.1.1898:      Über Tätowierung

17.11.1898:  Über die gegenwärtige Ausbreitung des Aussatzes in Europa

1.3.1908:      Über den heutigen Stand unserer Kenntnisse von dem Syphiliserreger, der in der Spirochaeta pallida gefunden zu sein scheint.

18.11.1909:  Die Ergebnisse der neuen Syphilisforschung mit Demonstration von Lichtbildern

8.1.1925:      Einige Kapitel aus der experimentellen Syphilis

1910 brachten die Farbwerke Hoechst die organische Arsenverbindung Arsphenamin (Dioxydiamidoarsenobenzol) unter dem Namen Salvarsan in den Handel. Es erwies sich als das erste wirksame Therapeutikum gegen Syphilis. Alfred Sternthal gehörte mit zu den allerersten Ärzten in Deutschland, die das Mittel in ihren Praxen einsetzten. Sternthal hatte dazu extra Kontakt zu dem Entwickler des Wirkstoffes, Professor Paul Ehrlich (1854-1915) aufgenommen und stimmte mit ihm die Therapien ab. Die Verabreichung des Arzneimittels war schwierig und stellte hohe Anforderungen an Hygiene und Injektionstechnik[7], hinzu kamen die vor allem bei intramuskulärer Gabe äußerst schmerzhafte Verabreichung sowie ein erhebliches Nebenwirkungspotenzial. 

Immer wieder wurde Alfred Sternthal vom Braunschweiger Gesundheitsministerium als Delegierter zu nationalen und internationalen Ärztekongressen delegiert, oder als Berater in dermatologischen Angelegenheiten zu Rate gezogen. Seine Kompetenzen auf dem Gebiet der Dermatologie drängten ihn auch förmlich als Nachfolger für eine am Landeskrankenhaus frei gewordene Leitung der Dermatologieabteilung auf. Doch es gab einflussreiche Widerständler gegen seine Person.[8] 1905 berief man ihn dann als Oberarzt an das Braunschweiger Rote-Kreuz-Krankenhaus. Am 8. Dezember 1911 verlieh man ihm den Titel Sanitätsrat.

Als zum Ende des 19. Jahrhunderts die Entdeckung der Röntgenstrahlen und die Entdeckung der Radioaktivität das Weltbild der Naturwissenschaftler revolutionierten, gehörte Alfred Sternthal mit zu den Ärzten, die physiologische Strahlenwirkungen medizin-therapeutisch einzusetzen begannen. 1897 schaffte er sich einen Röntgenapparat an und unternahm damit Bestrahlungen von Gewebserkrankungen. Er schrieb dazu in seinen Lebenserinnerungen[9]: „Da ich mit dieser im Oktober 1897 begann, glaube ich wohl mit Recht, einer der ältesten Röntgentherapeuten zu sein. … Zunächst war [die Röntgenstrahlung] für die Mediziner mehr ein physikalisches Curiosum, und man vergnügte sich damit, auf dem Röntgenschirm im Dunkelzimmer das Geld im Portemonnaie, den Trauring am Finger, das Skelett einer Hand oder eines Goldfisches zu sehen.“ Sehr schöne Ergebnisse erzielte er mit der Strahlenbehandlung der tuberkulösen Hautflechte Lupus. Zusammen mit dem Braunschweiger Glasinstrumentenbauer Richard Müller-Uri (1859-1929) entwickelte er eine spezielle Röntgenröhre, die es ermöglichte die Strahlung auf schwer zugängliche Körperstellen – Gelenkbeugen, Zehenzwischenräume, Hautfalten – auszurichten. Müller-Uri ließ sich die Röhre dann patentieren.

Sternthal gehörte nicht nur zu den Pionieren der Röntgentherapeuten, sondern er verhielt sich auch, angesichts schon bald beobachteter „Nebenwirkungen“, im Einsatz der Strahlung sehr vorsichtig. Im Verein für Naturwissenschaft berichtete er am 14.12.1899 über Erfahrungen mit Nebenwirkungen der Röntgenstrahlen. Mit erkennbarem Stolz erinnerte er sich 1937 an die Zeit zurück: „Mir erschien eine so starke Reaktion wie eine Röntgenverbrennung unerwünscht und auch unnötig, und ich kam bald darauf, dieses mächtige „physikalische Messer“ mit Vorsicht anzuwenden und die Dosis nur so stark zu nehmen wie zum Erfolg nötig war… [So] wusste ich doch mit Hilfe von Funkenstrecke der alten Induktionsapparate … eine Röntgenröhre so zu benutzen, dass ich ihre Strahlung jederzeit beherrschte… Ich habe in 40 jähriger Praxis als Röntgentherapeut nie einen Röntgenschaden verursacht, was doch gewiss etwas bedeuten will.“[10] 

Auch mit dem Einsatz von Radium befasste sich Alfred Sternthal. Auf einer Sitzung des Vereins für Naturwissenschaft, am 4. Februar 1904, berichtete er darüber, wie er an einem Patienten einen Tumor „an der Außenseite der Nase mittels Radiumstrahlen“ erfolgreich behandeln konnte. 

Auf beiden Gebieten, sowohl dem Einsatz der Röntgenstrahlung als auch dem der Radioaktivität, konnte er sich auf fachkundige Berater stützen. Über den Verein für Naturwissenschaft war er nämlich bekannt mit den Wolfenbütteler Physikern Julius Elster (1854-1920) und Hans Geitel (1855-1923) und über nachbarschaftliche Wohnverhältnisse befreundet mit dem Chemiker Friedrich Giesel (1852-1927). Diese waren maßgeblich in die frühe Forschungsgeschichte zur ionisierenden Strahlung involviert, sodass Sternthal nicht nur unmittelbaren Zugang zu kompetenten Beratern hatte, sondern auch stets gut über die neuesten physikalischen/chemischen Erkenntnisse informiert war. „Mit Geitel, Elster und Giesel zusammen zu sein, war eine reine Freude“, schrieb er 1937 in seinen Lebenserinnerungen. 

Alle Verdienste des Braunschweiger Dermatologen Alfred Sternthal zählten nicht mehr, als sich im Braunschweigischen der Nationalsozialismus epidemisch verbreitete. Anfang 1936 emigrierte er mit seiner Familie in die USA, nach Chicago, wo er am 24. April 1942 starb.

 

Publikationen: 

 *  [u.a.]: Venerische Krankheiten; Archiv für Dermatologie und Syphilis, 33 (1895), S. 455-470

*  Bericht über die Verhandlungen der Section für Dermatologie an der 69. Versammlung Deutscher Naturforscher und Aerzte in Braunschweig 19.-26. September 1897; Archiv für Dermatologie und Syphilis, 42 (1898), S. 109-133

*  [u.a.]: Syphilis - allgemeiner Teil; Archiv für Dermatologie und Syphilis, 42 (1898), S. 300-316

*  Beitrag zur Casuistik der Slcerodermie; Archiv für Dermatologie und Syphilis, 44 (1898), S. 293-206

*  [u.a.]: Acute und chronische Infectionskrankheiten; Archiv für Dermatologie und Syphilis, 45 (1898), S. 286-288

*  Prophylaxe der Syphilis und der ansteckenden Geschlechtskrankheiten; Monatsblatt für die öffentliche Gesundheitspflege, Braunschweig, 1900, S. 1-15

*  Über eine neue Röntgenröhre nebst Bemerkungen über Radiumwirkung; Wiener klinische Wochenschrift, 1901

*  Männersittlichkeit und Frauengesundheit - Vortrag am 20. Oktober 1903 beim Männerverein der St. Katharinengemeinde; Braunschweig u. Leipzig, Verlag Hellmuth Wollermann, x1904

*  Wissen und Wehr für die Wohlfahrt der Frau – Vortrag gehalten am 27. September 1906 vor sämtlichen Frauenvereinen der Stadt Braunschweig; Braunschweig, Oeding Verlag, 1907

*  Geleitworte zur Fahrt in das Leben; Vortrag … 1906 …; Leipzig, Verlag J. A. Barth, 21908, 19 Seiten

*  Eine Epidemie von Mikrosporie unter Braunschweiger Schulkindern; Archiv für Dermatologie und Syphilis, 113 (1912), S. 1103-1112

*  Erinnerungen eines alten Arztes; Chikago 1937, 295 S.; Leo Baeck Institute, Memoir Collection, REEL 75

                   
                   

Quellenangaben:

* Bilzer, Bert und Moderhack, Richard (Hrsg.): BRUNSVICENSIA JUDAICA - Gedenkbuch für die jüdischen Mitbürger der Stadt Braunschweig 1933–1945; in: Braunschweiger Werkstücke, Band 35, Braunschweig, 1966

* Friedrichs, Nelli H.: Erinnerungen aus meinem Leben in Braunschweig 1912 – 1937; Braunschweig, Stadtarchiv u. Stadtbibliothek, 1980

* Gerbert, Anneliese: Öffentliche Gesundheitspflege und staatliches Medizinalwesen in den Städten Braunschweig und Wolfenbüttel im 19. Jahrhundert; Braunschweig, Selbstverlag Braunschweigischer Geschichtsverein, 1983

* Jarck, Horst-Rüdiger und Scheel, Günter (Hrsg.): Braunschweigisches Biographisches Lexikon - 19. und 20. Jahrhundert; Hannover, 1996