Samuel Spier (1838 – 1903)

Kämpfer für Demokratie und soziale Gerechtigkeit

 

von Rudolf G. A. Fricke

 

Ausschnitt aus einem Bild mit den Führern der deutschen Sozialdemokratie 1870.
Repro: NdsLA Wolfenbüttel

    Sein exponiertes politisches Wirken dauerte nur knapp 4 Jahre und ist zeitlich gekoppelt mit seiner Tätigkeit als Lehrer in Wolfenbüttel (1864-1870/71). Zunächst noch ganz im Geiste eines Nationalliberalen agierend, wurde er zum Anhänger der Lehren Lassalles. Er trat dem Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein bei, wurde aber gleichzeitig zu einem der schärfsten Kritiker der undemokratischen Organisationsstrukturen des ADAV. Dann stand er an der Spitze der von ihm mitbegründeten »Socialdemocratischen Deutschen Arbeiter-Partei«, kurz SDAP genannt. 1869 war er Delegierter beim vierten Kongress der ersten sozialistischen Internationale in Basel. Für sein Eintreten für Demokratie und soziale Gerechtigkeit wurde er 1871 in Braunschweig vor Gericht gezerrt und musste sich im ersten Sozialistenprozess des neuen Deutschen Reiches gegen den Vorwurf des Landesverrates rechtfertigen.

   Das Streben nach Demokratie und sozialer Gerechtigkeit war die Leitlinie seines Handelns. Dieses Ziel verfolgte er konsequent, hütete sich aber vor öffentlichen radikalen Äußerungen. Dahinter steckt eine vorsichtige Einschätzung des herrschenden Zeitgeistes, des politisch Machbaren und die Befürchtung, durch zu „umstürzlerisches Auftreten“ den unbedingten Widerstand der Staatsgewalten hervorzurufen und so der Sache eher zu schaden als sie voranzubringen.

    Wegen seiner stets sachlich bleibenden politischen Auseinandersetzung und des Bemühens um Ausgleich zwischen politischen Lagern nahm Samuel Spier in der Arbeiterbewegung die Stellung eines Mittlers ein. In dieser Position wurde er zu einer der einflussreichsten Persönlichkeiten der frühen deutschen Demokratiebewegung.

 

Herkunft

    Samuel Spier ist nach eigenen Angaben am 4. April 1838 in Alsfeld geboren worden, einem kleinen Ort zwischen Marburg und Gießen. Seine Eltern sind der Kaufmann Benedikt Spier und Sara Eichenberg. Zur Familie gehörten noch 8 oder 9 weitere Geschwister. Um das Geburtsdatum gibt es ein paar Ungereimtheiten. Der standesamtliche Eintrag seiner Geburt erfolgte nämlich erst 1858, mit der Jahresangabe 1839; ein Jahr später wurde das Geburtsdatum dann auf 1838 korrigiert. Welche Bewandtnis es mit diesem Eintragungswirrwarr hat, wird sich wohl nie aufklären lassen.

    Zunächst besuchte Spier in seinem Geburtsort die israelitische Grundschule. Mit 9 Jahren kam er auf eine Privatschule. Ab Oktober 1852 besuchte er das Gymnasium in Gießen und ab 1855 das in Büdingen, wo er 1856 das Abitur erlangte. Spier muss ein sehr begabter Schüler gewesen sein: Er schloss nämlich nicht nur als Zweitbester seines Prüfungsjahrganges ab, er war zudem der jüngste Abiturient in der Geschichte der Schule. Anschließend studierte Spier in Gießen Philosophie und Naturwissenschaften für das Lehramt. 1862 war er schließlich Lehrer am sogenannten Brüsselschen Institut in Segnitz bei Würzburg. Das 1848 gegründete jüdische Internat zählte zu den bekanntesten Einrichtungen seiner Art. Kaufleute aus ganz Europa, auch nichtjüdische, schickten ihre Söhne in die fränkische Provinz. Der Internatsleiter hieß Simon Eichenberg (1829 – 1889). Die Namensgleichheit zu Spiers Mutter lässt die Vermutung zu, dass verwandtschaftliche Beziehungen bestanden.

    Im Herbst 1864 wechselte Spier als »erster Lehrer« an die Samsonschule nach Wolfenbüttel. Das hier ursprüngliche Schulgebäude gibt es zwar nicht mehr, die Grundstrukturen sind aber heute noch zu erkennen. Ein späterer Internatsanbau an der Rückseite, ist noch vollständig erhalten.

    Die Samsonschule war, wie das Segnitzer Internat, eine modern ausgerichtete jüdische Lehranstalt. Man strebte nach einem gleichberechtigten Zusammenleben mit dem christlichen Umfeld. Dieses geistige Klima kam Spier sehr entgegen. Er war kein „praktizierender“ Jude, er stand religiösen Dingen sogar reserviert gegenüber. Er war Mitglied im Verband Freireligiöser und trat für Toleranz und religiöse Freizügigkeit ein. Theologen wollte er aus allen Schulämtern verbannt wissen. Hier müssten wirkliche „Schulmänner“ tätig sein, war seine Überzeugung.

    Die Stellung der Wolfenbütteler Lehranstalt unterstreichen ein paar Namen bedeutender Persönlichkeiten. Leopold Zunz (1794-1886), Begründer der Wissenschaftsgeschichte des Judentums, war sowohl Schüler als auch als Lehrer an der Schule. Ebenfalls Schüler war der Historiker Isaac Marcus Jost (1793-1860). Schließlich sei auch noch Emil Berliner (1851-1929) erwähnt, der Erfinder der Schallplatte und des Mikrofons. Dieser hat die Samsonschule 1865 verlassen. Es ist also nicht auszuschließen, dass er noch von Spier unterrichtet worden ist.


Das heutige Aussehen des Komplexes der Samsonschule
 

Nationalliberaler

    Spier ist liberal und demokratisch beeinflusst aufgewachsen. Sein Vater war ein Anhänger der 1848er Demokratiebewegung. Sein Schuldirektor in Büdingen, Georg Thudichum (1794-1873) war liberaler Politiker und Schriftsteller. Er hatte 1848 für das Frankfurter Parlament kandidiert und war mehrfach in der Hessischen Kammer vertreten. In Schul- und Kirchenfragen gehörte er zu den meinungsführenden Liberalen. Dr. Simon Louis Eichenberg, Leiter des Brüsselschen Instituts, war fortschrittlich orientiert und tat sich in der Region mit sozialen Initiativen hervor. Er gab dem Junglehrer Spier Freiraum, in welchem er sich mit gesellschaftspolitischen Fragestellungen auseinandersetzen konnte. Beispielsweise ermöglichte er ihm 1863 die Teilnahme am „Volkswirthschaftlichen Congress“ in Dresden. Spier trat hier in persönlichen Kontakt mit dem einflussreichen liberalen Ökonomen Schulze-Delitzsch (1808-1883). Zu verschiedenen bedeutenden Vertretern aus dem Lager des liberalen Bürgertums baute er Briefkontakt auf.

     Also bereits politisch ambitioniert kam der damals 26-jährige Samuel Spier nach Wolfenbüttel. „Ich lege auf demokratische Einrichtungen ... Gewicht“ [Braunschweiger Tageblatt 1865], ist hier eine seiner ersten belegten politischen Aussagen. Dabei war ihm die Staatsform, in der das verwirklicht wurde, offenbar mehr oder weniger egal. Im Königreich England habe man ein unbeschränktes Vereins- und Versammlungsrecht, in der Republik Hamburg würden hingegen reaktionäre Verhältnisse herrschen, führte er im Vergleich an. Spier bezeichnete sich selbst später als damals Anhänger des deutschen Nationalvereins, der eine bundesstaatliche Einigung Deutschlands unter preußischer Führung verfolgte. In einer Gerichtsverhandlung gab er zu Protokoll: „Der Fortschritt zur einheitlichen Gestaltung Deutschlands ... wurde freudig von mir anerkannt. [Vernehmungsprotokoll Spier; NdsStA Wolfenbüttel]

    Trotz dieser klaren politischen Zuordnung, vertrat Spier auch ganz unabhängige Positionen. Er unterstützte Überlegungen, zur Erreichung der staatlichen Einheit Militär einzusetzen. Öffentlich bekannte er sich zur Politik Bismarcks, die bei den Liberalen äußerst umstrittenen war. „Ich glaube“, erklärte er im Widerspruch zu beispielsweise Rudolf Virchow und Schulze–Delitzsch, „diese Herren samt und sonders müssen ... die Segel streichen vor Bismarcks weitsichtigem politischen Blick, der in kurzer Zeit mit den richtig geschätzten Mitteln so überraschende Resultate erzielt.“ [Braunschweiger Tageblatt 1866] Das Zitat stammt aus dem liberalen Braunschweiger Tageblatt, für das Spier als freier Mitarbeiter schrieb. Ohne Versteckspiel offenbarte er den Lesern seine national und freiheitlich ausgerichteten Ansichten. Ganz im Geiste des Nationalliberalismus engagierte er sich in Wolfenbüttel im Gewerbeverein und im pädagogischen Verein. Als 1865 in Wolfenbüttel ein Arbeiterbildungsverein gegründet wurde, gehörte er nicht nur zu den Gründungsmitgliedern, sondern er wurde zum Motor der Gruppe. Volksbildung war für ihn gleichbedeutend mit Volksbefreiung.

 

Sozialdemokrat

    In dem Arbeiterbildungsverein waren auch einige Anhänger Lassalles und der Internationale vertreten. Spiers Tätigkeit in dem Arbeiterbildungsverein brachte es so zwangsläufig mit sich, dass er mit den Lehren Lassalles konfrontiert wurde. Die Auseinandersetzung damit ließ Spier in seiner bisherigen Ideologie ins Wanken geraten. Er las Lassallesche Schriften und gewann dabei nach eigenem Bekunden den Eindruck, „dass der Socialismus doch nicht blos eitel Narrheit und Unsinn sei, wie es so gewöhnlich in den ganzen National-Liberalen-Blättern dargestellt wurde.“ [Vernehmungsprotokoll Spier; NdsLAWolfenbüttel]

    Es kam das Jahr 1867. Es war sozusagen ein Schicksalsjahr für Spier. Erstens, sein Vater stirbt und vererbt ihm ein beträchtliches Vermögen. Spier wird finanziell unabhängig. Zweitens, am 21. Juni organisiert die Braunschweiger Ortsgruppe des Lassalleschen ADAV in der Asse einen sogenannten Arbeitertag. Spier nimmt als Vertreter des Wolfenbütteler Arbeiterbildungsvereins daran teil und erlebt hier eine Ansprache des Kaufmanns Wilhelm Bracke (1842-1880). Das Erlebnis des Arbeitertages und insbesondere der Auftritt Brackes wandelten nun Spier endgültig vom Nationalliberalen zum Anhänger der Lassalleschen Ideologie. Noch auf der Versammlung trat er dem ADAV bei. In Wolfenbüttel rief er umgehend eine Ortsgruppe des ADAV ins Leben. Auf deren Gründungsversammlung prophezeite er, die Welt werde bald erkennen müssen, dass Lassalle zu den großartigsten Männern der Weltgeschichte gehöre.

     Zusammen mit Wilhelm Bracke und Genossen entfachte Spier im Braunschweiger Raum ein im wahrsten Sinne des Wortes Feuerwerk der politischen Agitation. In Arbeitsgruppen wurden politische Themen diskutiert. Auf zum Teil groß angelegten Veranstaltungen wurden konkrete Forderungen einer gesellschaftlichen Neuordnung an die Öffentlichkeit getragen. Die innerhalb kürzester Zeit entwickelten Aktivitäten Spiers waren so beeindruckend, dass man ihn in Wolfenbüttel zum Kandidaten für die anstehenden Reichstagswahlen küren wollte. Dies lehnte Samuel Spier jedoch mit der Begründung ab, er gehöre erst kurze Zeit dem ADAV an und könne noch nicht absehen, ob er seine Meinung beibehalten werde. Als Kandidat trat schließlich der populäre ADAV Mitbegründer Friedrich Wilhelm Fritzsche (1825-1905) an. Aber Spier führte für ihn den Wahlkampf. Er bestach dabei nicht nur durch eine brillante Redekunst und eine konzentriert und sachlich vorgetragene Argumentation; Spier brachte ein völlig neues Element in die politische Auseinandersetzung. Ganz gezielt suchte er gegnerische Wahlveranstaltungen auf und mischte sich in die Diskussionen ein. Geschickt agitierend, funktionierte er die Versammlungen zu Werbeveranstaltungen für den ADAV um.

     Spier erhielt immer stärken Einfluss auf das Erscheinungsbild des ADAV. Eine Entwicklung, die der damalige Vorsitzende des ADAV und Lassalle Nachfolger, Johann Baptist v. Schweitzer (1834-1875), allerdings mit Misstrauen beobachtete. Und der hatte auch allen Grund dazu. Spier avancierte nämlich zu seinem heftigsten Kritiker. In immer schärferer Form übte er Kritik an den undemokratischen Strukturen des ADAV und dem autoritär ausgenutzten Führungsstiel v. Schweitzers. Massiv brachte Spier seine Kritik Ostern 1869 in Elberfeld auf der Generalversammlung des ADAV vor. Von Schweitzer gab schließlich nach und willigte in Änderungen der Organisationsstatuten und Beschneidungen seiner Kompetenzen ein. Als Schweitzer dann aber kurze Zeit darauf die Veränderungen in seiner kritisierten, selbstgerechten Art wieder zurücknahm – die Oppositionellen sprachen damals sogar von Staatsstreich, kam es zum offenen Bruch. Am 22. Juni 1869 trafen sich August Bebel (1840-1913), Wilhelm Liebknecht (1826-1900), Wilhelm Bracke, Spier und noch einige andere führende Persönlichkeiten der Arbeiterbewegung in einem Gasthaus in Magdeburg und vollzogen mit der Gründung der »Socialdemokratischen Arbeiterpartei Deutschlands« die Trennung vom ADAV.

     Es war Spier gewesen, der die Kontakte zu Bebel und Liebknecht geknüpft hatte. Schon 1868, anlässlich einer Reise zur Naturforscherversammlung in Dresden, hatte er die Gelegenheit genommen, mit den beiden Führern der Sächsischen Volkspartei die Verhältnisse im ADAV zu besprechen. Das Programm der SDAP, das auf einer Generalversammlung in Elberfeld beschlossen wurde, trägt in vielen Bereichen die Handschrift Spiers. 15 im Versammlungsprotokoll vermerkte Redebeiträge von ihm dokumentieren, wie sehr er auf die Formulierungen der Parteistatuten Einfluss genommen hat. Er setzte eine demokratische, leistungsstarke Parteistruktur durch: Die Führungskompetenzen wurden auf mehrere Gremien aufgeteilt und ein Kontrollausschuss eingerichtet. Ganz im Sinne Spiers wurde auch die Forderung nach einer allgemeinen Grundbildung und dem Zugang zu höheren Schulen ohne Einschränkung des Standes festgeschrieben.

     Auf Betreiben von Bebel und Liebknecht bestimmte man dann Braunschweig/Wolfenbüttel zum Sitz der Partei. „Was nun Braunschweig-Wolfenbüttel betrifft ...,“ begründeten sie, „so vereinigt sich dort Alles, um die Wahl zu empfehlen. Wir haben daselbst tüchtige Männer ... und ... die Lage des Ortes, im Zentrum der Bewegung ist eine vortreffliche.“ [A. Bebel, Aus meinem Leben]

     Für gut zwei Jahre lag nun ein Großteil der politischen und organisatorischen Verantwortung für die Partei bei den Mannen um Bracke und Spier, kamen politische Impulse für die deutsche Arbeiterbewegung aus Braunschweig und Wolfenbüttel.

     Samuel Spier hatte visionäre Vorstellung von einer geänderten Gesellschaftsstruktur und die verfolgte er beharrlich. Aber er war zugleich auch ein Pragmatiker. Im Gegensatz zu fast allen seinen Mitstreitern sind von ihm keine öffentlichen Äußerungen radikaler Ansichten bekannt. Vielmehr warnte er immer wieder vor zu umstürzlerischen Forderungen. Sie würden nach seiner Sicht nur den umso größeren Widerstand der Staatsgewalt herausfordern. Dieses scheinbar vorsichtige Taktieren, sowie das Beibehalten seiner Kontakte zu liberalen Politikern, brachte Spier verschiedentlich in die Kritik von Gesinnungsgenossen. Bebel schrieb einmal mit schadenfrohem Unterton: „Dass der vorsichtige Spier so mit reingefallen ist, könnte mich ordentlich heiter stimmen ...[A. Bebel, Aus meinem Leben]. Von Karl Marx ist bekannt, dass er bei einem Zusammentreffen sich Spier gegenüber reserviert verhielt. Andererseits genoss Spier aber Vertrauen und hohes Ansehen. So schrieb Liebknecht: „Ein famoser Kerl hinter dem eine Menge steckt.“ [Vernehmungsprotokoll Spier; NdsLA Wolfenbüttel]

    Gerade dieser scheinbare Widerspruch den Spier verkörperte – zielstrebiges Verfolgen einer veränderten Gesellschaftsstruktur, auf der anderen Seite Ferne von jeder Radikalität – ist es, die insbesondere seine politische Bedeutung ausmacht. Auch die Bitte eines führenden Vertreters der Arbeiterbewegung an Spier, sich in einer strittigen Angelegenheit an den Führer eines anderen Flügels zu wenden, spricht für sich. Er hatte offenkundig eine Mittlerstellung zwischen den einzelnen Strömungen der Arbeiterbewegung und er hielt auch bewusst Gesprächskontakt zu politischen Gegnern. Er war damit unzweifelhaft einer der einflussreichsten Männer der frühen deutschen Demokratiebewegung. Zudem war Spier ein gewandter, mit Überzeugungskraft ausgestatteter Redner gewesen. Als beispielsweise auf dem Elberfelder Gründungsparteitag der SDAP Äußerungen Bebels einen Tumult unter den Delegierten auslöste, gelang es Spier die Ruhe unter den Anwesenden wieder herzustellen.

 

Hoch- und Landesverräter

Inhaltsverzeichnis der „Spezialakte Spier“ zur Anklage wegen Hoch- und Landesverrats.
Repro: NdsLA Wolfenbüttel

    Der Grund für die zuvor genannte schadenfrohe Äußerung Bebels über Spier steht im Zusammenhang mit dem Krieg von 1870/71. Die Braunschweiger Parteiführung unterstützte nämlich zunächst den Waffengang gegen Frankreich. Wer angegriffen wird, müsse sich verteidigen dürfen, war ihre Einstellung. Bebel und Liebknecht sahen die Situation anders – für sie waren die Kriegshandlungen von Deutschland gewollt – und sprachen sich gegen einen Waffengang „gegen Brüder“ aus. Es kam zu einem recht heftigen Streit zwischen den beiden Lagern: Die SDAP drohte zu zerfallen; Liebknecht stand kurz davor, alle seine politischen Aktivitäten aufzugeben und auszuwandern. Als man sich nach dem Sieg bei Sedan und der Gefangennahme Napoleons III. dann auch in Braunschweig/Wolfenbüttel gegen die Weiterführung des Krieges aussprach und am 5.9.1870 in einem denkwürdigen Manifest einen sofortigen „ehrenvollen Frieden“ mit Frankreich forderte, waren die Wogen wieder geglättet. Doch das Ereignis hatte in anderer Hinsicht Konsequenzen.

    Am 9. September 1870 wurden alle Mitglieder der Braunschweiger Parteiführung verhaftet und nach Lötzen in Ostpreußen verbracht. Die Verhaftungen verliefen entwürdigend. Es wurde beispielsweise die Verrichtung der menschlichen Notdurft nur unter Beobachtung gestattet und die Benachrichtigung von Familienangehörigen verweigert. Wie Schwerstverbrecher in Ketten geschlossen, wurde man auf offener Straße, von einer Militärpatrouille flankiert, zum Bahnhof geleitet. Nur die Verhaftung Spiers, die in Wolfenbüttel erfolgte, ging ohne öffentliche zur Schau Stellung vor sich.

    Im November erfolgte die Rückverlegung der Inhaftierten nach Braunschweig. Das eingeleitete Gerichtsverfahren sollte ein Tribunal gegen die Sozialdemokratie werden. Die Anklage lautete auf Landesverrat; sie schrumpfte jedoch zum Vergehen gegen das Versammlungsgesetz. Von der für Spier geforderten mehrjährigen Freiheitsstrafe blieb im Urteil nur 2 Monate Gefängnis übrig.

 

Rückzug

    Am 3. März 1871, Spier befand sich noch in Untersuchungshaft, wurden Reichstagswahlen durchgeführt. Spier war für die SDAP als Kandidat im Wahlkreis Wolfenbüttel-Helmstedt und dem sächsischen Mittweida aufgestellt worden. Während er im Heimatwahlkreis glatt durchfiel, erhielt er in Mittweida so viele Stimmen, dass eine Stichwahl erforderlich wurde. In dieser unterlag er mit 4017 gegen 5430 Stimmen seinem Konkurrenten von der Nationalliberalen Partei. Bemerkenswert ist noch, dass Spier nach August Bebel die meisten Stimmen für die SDAP geholt hatte.

    Gerade aus der Haft entlassen, hielt Samuel Spier am 15. Mai 1871 in Braunschweig vor rund 12000 Menschen eine Rede, dann wurde es unvermittelt still um ihn. Er verließ Wolfenbüttel. Die Umstände und Hintergründe dafür liegen völlig im Dunkeln. Es wird sich vermutlich auch nie mehr eindeutig klären lassen, warum sich Spier zurückzog. Ein einziger Klärungsansatz könnte sein, dass Spier zu der Zeit mit einer ganzen Reihe nervenaufreibender Privatklagen um sein Vermögen beschäftigt war. Die Haft und insbesondere ein sehr kleinliches Verhalten der Gefängnisleitung behinderte Spier in der Ausschöpfung seiner Rechtsposition und brachte ihm erhebliche Vermögensverluste. „Ob dadurch die Interessen Spiers geschädigt sind“, spekulierte selbst Bracke über den plötzlichen Rückzug seines bisherigen Kampfgefährten aus der politischen Arbeit, „vermag ich nicht anzugeben.“ [W. Bracke, Der Braunschweiger Ausschuß der socialdemokratischen Arbeiterpartei in Lötzen und vor dem Gerichte]

    Belegbar ist, dass Spiers Rückzug kein Rückzug von den politischen Idealen war. Auf einer im März 1872 in Leipzig abgehaltenen Gerichtsverhandlung gegen Bebel und Liebknecht, zu der er als Zeuge geladen war und an der er über die gesamte Prozessdauer teilnahm, bekannte er sich weiterhin zur Sozialdemokratie. An seinem neuen Aufenthaltsort engagierte er sich in der Konsumgenossenschaft, in der Frankfurter sozialdemokratischen Zeitschrift »Volksstimme« erschienen noch ein paar Artikel von ihm.

    In Wolfenbüttel war es mit Spiers Weggang vorbei mit Aktivitäten der Arbeiterbewegung und sonstigen erkennbaren Forderungen aus der Arbeiterschaft. Auch um Braunschweig wurde es merklich stiller. Wolfenbüttel/Braunschweig verschwand als Sitz der Partei aus Mitteilungen. Bemerkenswert scheint noch, dass sich nach dem Rückzug Spiers innerhalb der SDAP heftige Flügelkämpfe entwickelten und eine deutliche Radikalisierung der politischen Äußerungen zu verzeichnen ist.

 

Wie ging es weiter mit Spier?!

      Für die Braunschweiger Behörden war er nach Frankfurt am Main verzogen und hatte sich dort als Privatgelehrter niedergelassen. In Wirklichkeit aber ging er nach Segnitz. Er übernahm hier die Leitung des „Brüsselschen Instituts“, jener Internatsschule, an der er bereits von 1862 bis 1864 als Junglehrer tätig gewesen war. Bei der Meldung an das Schulamt datierte der bisherige Internatsleiter Eichenberg den Eintritt Spiers vor und verschwieg auch dessen Verurteilung. Eichenberg wollte Spier also ganz offensichtlich vor Schwierigkeiten mit den Landesbehörden schützen.

     Dass man heute überhaupt Details aus Samuel Spiers weiterem Leben weiß, ist dem Triester Schriftsteller Italo Svevo (1861-1928) zu verdanken. Er war von 1873 bis 1878 Internatsschüler in Segnitz. Svevo hieß eigentlich Ettore Schmitz, war österreichischer Staatsbürger deutscher Herkunft und zählt zu den wichtigen Schriftstellern der modernen Weltliteratur. Es sei hier lediglich auf seinen 1929 ins Deutsche übersetzten Roman Zeno Cosini hingewiesen, in dem er sich als Autor humorvoll-ironisch mit der Psychoanalyse beschäftigte.

Ansicht Segnitz (© Hensel)

     Biografen Ettore Schmitz’ richteten ihr Interesse auf Spier, nachdem deutlich wurde, dass „Herr Beer“, wie Spier von Schmitz in seinen Tagebüchern genannt wurde, großen Einfluss auf seine Persönlichkeitsentwicklung genommen hatte. In den Tagebüchern wird Spier als ein gütiger und mit viel Sachkenntnis – besonders in Bereich der Sozialwissenschaften – ausgestatteter Lehrer beschrieben. Schmitz schreibt auch, dass er und seine Mitschüler den Eindruck gehabt hätten, Spier habe sich in einer Art Exil befunden und von etwas anderem geträumt, als in der fränkischen Provinz Schuldirektor zu sein: Nie sei er ohne ein Buch gewesen, in das er sich bei jeder Gelegenheit so sehr vertiefte, dass er alles um sich vergaß. „Halomesperter“ (Traumpeter) war deshalb sein Spitzname. „Er war ein Mann von vielleicht 40 Jahren und trug immer einen langen schwarzen Gehrock. Ein blondes Bärtchen ging vom Kinn aus und führte einen Rahmen um sein etwas holzig wirkendes Gesicht mit der dünnen Nase und den glatten, blassen Wangen; insgesamt ein regelmäßiges, einfaches Gesicht, das mit Schreinerwerkzeugen gemacht schien. Er hatte üppige, lockige Haare, dunkler als das Bärtchen und der Schnauzer. ... Ein Mann von hoher Gestalt, durchdringenden Augen und einer Denkerstirn. Ein sehr friedlicher Mensch, der ... nach Segnitz zu einer Art Zwangsaufenthalt verbannt war.“ [Hensel, Gatt-Rutter; Italo Svevo – Samuel Spiers Schüler]

     In Segnitz verheiratete sich Spier mit Anna Kaufmann (1852-1933). Sie war 14 Jahre jünger als er und stammte aus Frankenthal. Aus der Ehe gingen mindestens drei Kinder hervor: Am 3.11.1873 geboren, Tochter Maria Sara; sie wurde nur zwei Jahre alt. Am 29.3.1875 geboren, Sohn Oscar Benedikt; er wurde Rechtsanwalt, nahm sich während der Nazi-Herrschaft das Leben. Am 24.11.1876 geboren, Tochter Elise Karoline; ihr Verbleib ist unbekannt.

     1881 erfolgte die Auflösung des Brüsselschen Institutes und Spier zog mit seiner Familie nach Frankfurt am Main. Hier ist er am 9.11.1903 gestorben. Ob er auch in Frankfurt begraben wurde, und wo, ist unbekannt.


Zum Nachlesen

* Eckert, Georg: 100 Jahre Braunschweiger Sozialdemokratie; Dietz Verlag, Hannover 1965

* Fricke, Rudolf G. A.: Die Arbeiterbewegung in unserem Land; Elm-Verlag, Cremlingen 1989

* Hensel, Hans Michael [Hrg.], John Gatt-Rutter: Italo Svevo – Samuel Spiers Schüler; Zeno’s Verlag, Segnitz 1996