Samuel Spier (1838 – 1903)
Kämpfer für Demokratie und soziale Gerechtigkeit
von
Rudolf G. A. Fricke
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Ausschnitt aus einem Bild mit den Führern der deutschen
Sozialdemokratie 1870.
Repro: NdsLA Wolfenbüttel
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Sein exponiertes politisches Wirken dauerte nur knapp 4 Jahre
und ist zeitlich gekoppelt mit seiner Tätigkeit als Lehrer in
Wolfenbüttel (1864-1870/71). Zunächst noch ganz im Geiste eines
Nationalliberalen agierend, wurde er zum Anhänger der Lehren
Lassalles. Er trat dem Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein bei,
wurde aber gleichzeitig zu einem der schärfsten Kritiker der
undemokratischen Organisationsstrukturen des ADAV. Dann stand er
an der Spitze der von ihm mitbegründeten »Socialdemocratischen
Deutschen Arbeiter-Partei«, kurz SDAP genannt. 1869 war er
Delegierter beim vierten Kongress der ersten sozialistischen
Internationale in Basel. Für sein Eintreten für Demokratie und
soziale Gerechtigkeit wurde er 1871 in Braunschweig vor Gericht
gezerrt und musste sich im ersten Sozialistenprozess des neuen
Deutschen Reiches gegen den Vorwurf des Landesverrates
rechtfertigen.
Das Streben nach Demokratie und sozialer Gerechtigkeit war die
Leitlinie seines Handelns. Dieses Ziel verfolgte er konsequent,
hütete sich aber vor öffentlichen radikalen Äußerungen. Dahinter
steckt eine vorsichtige Einschätzung des herrschenden
Zeitgeistes, des politisch Machbaren und die Befürchtung, durch
zu „umstürzlerisches Auftreten“ den unbedingten Widerstand der
Staatsgewalten hervorzurufen und so der Sache eher zu schaden
als sie voranzubringen.
Wegen seiner stets sachlich bleibenden
politischen Auseinandersetzung und des Bemühens um Ausgleich
zwischen politischen Lagern nahm Samuel Spier in der
Arbeiterbewegung die Stellung eines Mittlers ein. In dieser
Position wurde er zu einer der einflussreichsten
Persönlichkeiten der frühen deutschen Demokratiebewegung.
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Herkunft
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Samuel Spier ist nach eigenen Angaben am 4. April 1838 in
Alsfeld geboren worden, einem kleinen Ort zwischen Marburg und
Gießen. Seine Eltern sind der Kaufmann Benedikt Spier und Sara
Eichenberg. Zur Familie gehörten noch 8 oder 9 weitere
Geschwister. Um das Geburtsdatum gibt es ein paar
Ungereimtheiten. Der standesamtliche Eintrag seiner Geburt
erfolgte nämlich erst 1858, mit der Jahresangabe 1839; ein Jahr später
wurde das Geburtsdatum dann auf 1838 korrigiert. Welche
Bewandtnis es mit diesem Eintragungswirrwarr hat, wird sich wohl
nie aufklären lassen.
Zunächst besuchte Spier in seinem
Geburtsort die israelitische Grundschule. Mit 9 Jahren kam er
auf eine Privatschule. Ab Oktober 1852 besuchte er das Gymnasium
in Gießen und ab 1855 das in Büdingen, wo er 1856 das Abitur
erlangte. Spier muss ein sehr begabter Schüler gewesen sein: Er
schloss nämlich nicht nur als Zweitbester seines
Prüfungsjahrganges ab, er war zudem der jüngste Abiturient in
der Geschichte der Schule. Anschließend studierte Spier in
Gießen Philosophie und Naturwissenschaften für das Lehramt. 1862
war er schließlich Lehrer am sogenannten Brüsselschen Institut
in Segnitz bei Würzburg. Das 1848 gegründete jüdische Internat
zählte zu den bekanntesten Einrichtungen seiner Art. Kaufleute
aus ganz Europa, auch nichtjüdische, schickten ihre Söhne in die
fränkische Provinz. Der Internatsleiter hieß Simon Eichenberg
(1829 – 1889). Die Namensgleichheit zu Spiers Mutter lässt die
Vermutung zu, dass verwandtschaftliche Beziehungen bestanden.
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Im Herbst 1864 wechselte Spier als »erster Lehrer« an die
Samsonschule nach Wolfenbüttel. Das hier ursprüngliche
Schulgebäude gibt es zwar nicht mehr, die Grundstrukturen sind
aber heute noch zu erkennen. Ein späterer Internatsanbau an der
Rückseite, ist noch vollständig erhalten.
Die Samsonschule war,
wie das Segnitzer Internat, eine modern ausgerichtete jüdische
Lehranstalt. Man strebte nach einem gleichberechtigten
Zusammenleben mit dem christlichen Umfeld. Dieses geistige Klima
kam Spier sehr entgegen. Er war kein „praktizierender“ Jude, er
stand religiösen Dingen sogar reserviert gegenüber. Er war
Mitglied im Verband Freireligiöser und trat für Toleranz und
religiöse Freizügigkeit ein. Theologen wollte er aus allen
Schulämtern verbannt wissen. Hier müssten wirkliche
„Schulmänner“ tätig sein, war seine Überzeugung.
Die Stellung der Wolfenbütteler Lehranstalt unterstreichen ein
paar Namen bedeutender Persönlichkeiten. Leopold Zunz
(1794-1886), Begründer der Wissenschaftsgeschichte des
Judentums, war sowohl Schüler als auch als Lehrer an der Schule.
Ebenfalls Schüler war der Historiker Isaac Marcus Jost
(1793-1860). Schließlich sei auch noch Emil Berliner (1851-1929)
erwähnt, der Erfinder der Schallplatte und des Mikrofons. Dieser
hat die Samsonschule 1865 verlassen. Es ist also nicht
auszuschließen, dass er noch von Spier unterrichtet worden ist.
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Das heutige Aussehen des
Komplexes der Samsonschule |
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Nationalliberaler
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Spier ist liberal und demokratisch beeinflusst aufgewachsen.
Sein Vater war ein Anhänger der 1848er Demokratiebewegung. Sein
Schuldirektor in Büdingen, Georg Thudichum (1794-1873) war
liberaler Politiker und Schriftsteller. Er hatte 1848 für das
Frankfurter Parlament kandidiert und war mehrfach in der
Hessischen Kammer vertreten. In Schul- und Kirchenfragen gehörte
er zu den meinungsführenden Liberalen. Dr. Simon Louis
Eichenberg, Leiter des Brüsselschen Instituts, war
fortschrittlich orientiert und tat sich in der Region mit
sozialen Initiativen hervor. Er gab dem Junglehrer Spier
Freiraum, in welchem er sich mit gesellschaftspolitischen
Fragestellungen auseinandersetzen konnte. Beispielsweise
ermöglichte er ihm 1863 die Teilnahme am „Volkswirthschaftlichen
Congress“ in Dresden. Spier trat hier in persönlichen Kontakt
mit dem einflussreichen liberalen Ökonomen Schulze-Delitzsch
(1808-1883). Zu verschiedenen bedeutenden Vertretern aus dem
Lager des liberalen Bürgertums baute er Briefkontakt auf.
Also bereits politisch ambitioniert kam der damals 26-jährige
Samuel Spier nach Wolfenbüttel. „Ich lege auf demokratische
Einrichtungen ... Gewicht“ [Braunschweiger Tageblatt 1865], ist
hier eine seiner ersten belegten politischen Aussagen. Dabei war
ihm die Staatsform, in der das verwirklicht wurde, offenbar mehr
oder weniger egal. Im Königreich England habe man ein
unbeschränktes Vereins- und Versammlungsrecht, in der Republik
Hamburg würden hingegen reaktionäre Verhältnisse herrschen,
führte er im Vergleich an. Spier bezeichnete sich selbst später
als damals Anhänger des deutschen Nationalvereins, der eine
bundesstaatliche Einigung Deutschlands unter preußischer Führung
verfolgte. In einer Gerichtsverhandlung gab er zu Protokoll:
„Der Fortschritt zur einheitlichen Gestaltung Deutschlands ...
wurde freudig von mir anerkannt.“ [Vernehmungsprotokoll Spier;
NdsStA Wolfenbüttel]
Trotz dieser klaren politischen Zuordnung, vertrat Spier auch
ganz unabhängige Positionen. Er unterstützte Überlegungen, zur
Erreichung der staatlichen Einheit Militär einzusetzen.
Öffentlich bekannte er sich zur Politik Bismarcks, die bei den
Liberalen äußerst umstrittenen war. „Ich glaube“, erklärte er im
Widerspruch zu beispielsweise Rudolf Virchow und
Schulze–Delitzsch, „diese Herren samt und sonders müssen ... die
Segel streichen vor Bismarcks weitsichtigem politischen Blick,
der in kurzer Zeit mit den richtig geschätzten Mitteln so
überraschende Resultate erzielt.“ [Braunschweiger Tageblatt
1866] Das Zitat stammt aus dem liberalen Braunschweiger
Tageblatt, für das Spier als freier Mitarbeiter schrieb. Ohne
Versteckspiel offenbarte er den Lesern seine national und
freiheitlich ausgerichteten Ansichten. Ganz im Geiste des
Nationalliberalismus engagierte er sich in Wolfenbüttel im
Gewerbeverein und im pädagogischen Verein. Als 1865 in
Wolfenbüttel ein Arbeiterbildungsverein gegründet wurde, gehörte
er nicht nur zu den Gründungsmitgliedern, sondern er wurde zum
Motor der Gruppe. Volksbildung war für ihn gleichbedeutend mit
Volksbefreiung.
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Sozialdemokrat
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In dem Arbeiterbildungsverein waren auch einige Anhänger
Lassalles und der Internationale vertreten. Spiers Tätigkeit in
dem Arbeiterbildungsverein brachte es so zwangsläufig mit sich,
dass er mit den Lehren Lassalles konfrontiert wurde. Die
Auseinandersetzung damit ließ Spier in seiner bisherigen
Ideologie ins Wanken geraten. Er las Lassallesche Schriften und
gewann dabei nach eigenem Bekunden den Eindruck, „dass der
Socialismus doch nicht blos eitel Narrheit und Unsinn sei, wie
es so gewöhnlich in den ganzen National-Liberalen-Blättern
dargestellt wurde.“ [Vernehmungsprotokoll Spier;
NdsLAWolfenbüttel]
Es kam das Jahr 1867. Es war sozusagen ein Schicksalsjahr für
Spier. Erstens, sein Vater stirbt und vererbt ihm ein
beträchtliches Vermögen. Spier wird finanziell unabhängig.
Zweitens, am 21. Juni organisiert die Braunschweiger Ortsgruppe
des Lassalleschen ADAV in der Asse einen sogenannten
Arbeitertag. Spier nimmt als Vertreter des Wolfenbütteler
Arbeiterbildungsvereins daran teil und erlebt hier eine
Ansprache des Kaufmanns Wilhelm Bracke (1842-1880). Das Erlebnis
des Arbeitertages und insbesondere der Auftritt Brackes
wandelten nun Spier endgültig vom Nationalliberalen zum Anhänger
der Lassalleschen Ideologie. Noch auf der Versammlung trat er
dem ADAV bei. In Wolfenbüttel rief er umgehend eine Ortsgruppe
des ADAV ins Leben. Auf deren Gründungsversammlung prophezeite
er, die Welt werde bald erkennen müssen, dass Lassalle zu den
großartigsten
Männern der Weltgeschichte gehöre.
Zusammen mit Wilhelm Bracke und Genossen entfachte Spier im
Braunschweiger Raum ein im wahrsten Sinne des Wortes Feuerwerk
der politischen Agitation. In Arbeitsgruppen wurden politische
Themen diskutiert. Auf zum Teil groß angelegten Veranstaltungen
wurden konkrete Forderungen einer gesellschaftlichen Neuordnung
an die Öffentlichkeit getragen. Die innerhalb kürzester Zeit
entwickelten Aktivitäten Spiers waren so beeindruckend, dass man
ihn in Wolfenbüttel zum Kandidaten für die anstehenden
Reichstagswahlen küren wollte. Dies lehnte Samuel Spier jedoch
mit der Begründung ab, er gehöre erst kurze Zeit dem ADAV an und
könne noch nicht absehen, ob er seine Meinung beibehalten werde.
Als Kandidat trat schließlich der populäre ADAV Mitbegründer
Friedrich Wilhelm Fritzsche (1825-1905) an. Aber Spier führte
für ihn den Wahlkampf. Er bestach dabei nicht nur durch eine
brillante Redekunst und eine konzentriert und sachlich
vorgetragene Argumentation; Spier brachte ein völlig neues
Element in die politische Auseinandersetzung. Ganz gezielt
suchte er gegnerische Wahlveranstaltungen auf und mischte sich
in die Diskussionen ein. Geschickt agitierend, funktionierte er
die Versammlungen zu Werbeveranstaltungen für den ADAV um.
Spier erhielt immer stärken Einfluss auf das Erscheinungsbild
des ADAV. Eine Entwicklung, die der damalige Vorsitzende des
ADAV und Lassalle Nachfolger, Johann Baptist v. Schweitzer
(1834-1875), allerdings mit Misstrauen beobachtete. Und der
hatte auch allen Grund dazu. Spier avancierte nämlich zu seinem
heftigsten Kritiker. In immer schärferer Form übte er Kritik an
den undemokratischen Strukturen des ADAV und dem autoritär
ausgenutzten Führungsstiel v. Schweitzers. Massiv brachte Spier
seine Kritik Ostern 1869 in Elberfeld auf der Generalversammlung
des ADAV vor. Von Schweitzer gab schließlich nach und willigte
in Änderungen der Organisationsstatuten und Beschneidungen
seiner Kompetenzen ein. Als Schweitzer dann aber kurze Zeit
darauf die Veränderungen in seiner kritisierten, selbstgerechten
Art wieder zurücknahm – die Oppositionellen sprachen damals
sogar von Staatsstreich, kam es zum offenen Bruch. Am 22. Juni
1869 trafen sich August Bebel (1840-1913), Wilhelm Liebknecht
(1826-1900), Wilhelm Bracke, Spier und noch einige andere
führende Persönlichkeiten der Arbeiterbewegung in einem Gasthaus
in Magdeburg und vollzogen mit der Gründung der
»Socialdemokratischen Arbeiterpartei Deutschlands« die Trennung
vom ADAV.
Es war Spier gewesen, der die Kontakte zu Bebel und Liebknecht
geknüpft hatte. Schon 1868, anlässlich einer Reise zur
Naturforscherversammlung in Dresden, hatte er die Gelegenheit
genommen, mit den beiden Führern der Sächsischen Volkspartei die
Verhältnisse im ADAV zu besprechen. Das Programm der SDAP, das
auf einer Generalversammlung in Elberfeld beschlossen wurde,
trägt in vielen Bereichen die Handschrift Spiers. 15 im
Versammlungsprotokoll vermerkte Redebeiträge von ihm
dokumentieren, wie sehr er auf die Formulierungen der
Parteistatuten Einfluss genommen hat. Er setzte eine
demokratische, leistungsstarke Parteistruktur durch: Die
Führungskompetenzen wurden auf mehrere Gremien aufgeteilt und
ein Kontrollausschuss eingerichtet. Ganz im Sinne Spiers wurde
auch die Forderung nach einer allgemeinen Grundbildung und dem
Zugang zu höheren Schulen ohne Einschränkung des Standes
festgeschrieben.
Auf Betreiben von Bebel und Liebknecht bestimmte man dann
Braunschweig/Wolfenbüttel zum Sitz der Partei. „Was nun
Braunschweig-Wolfenbüttel betrifft ...,“ begründeten sie,
„so
vereinigt sich dort Alles, um die Wahl zu empfehlen. Wir haben
daselbst tüchtige Männer ... und ... die Lage des Ortes, im
Zentrum der Bewegung ist eine vortreffliche.“
[A. Bebel, Aus
meinem Leben]
Für gut zwei Jahre lag nun ein Großteil der politischen und
organisatorischen Verantwortung für die Partei bei den Mannen um
Bracke und Spier, kamen politische Impulse für die deutsche
Arbeiterbewegung aus Braunschweig und Wolfenbüttel.
Samuel Spier hatte visionäre Vorstellung von einer geänderten
Gesellschaftsstruktur und die verfolgte er beharrlich. Aber er
war zugleich auch ein Pragmatiker. Im Gegensatz zu fast allen
seinen Mitstreitern sind von ihm keine öffentlichen Äußerungen
radikaler Ansichten bekannt. Vielmehr warnte er immer wieder vor
zu umstürzlerischen Forderungen. Sie würden nach seiner Sicht
nur den umso größeren Widerstand der Staatsgewalt herausfordern.
Dieses scheinbar vorsichtige Taktieren, sowie das Beibehalten
seiner Kontakte zu liberalen Politikern, brachte Spier
verschiedentlich in die Kritik von Gesinnungsgenossen. Bebel
schrieb einmal mit schadenfrohem Unterton: „Dass der vorsichtige
Spier so mit reingefallen ist, könnte mich ordentlich heiter
stimmen ...“ [A. Bebel, Aus meinem Leben]. Von Karl Marx ist
bekannt, dass er bei einem Zusammentreffen sich Spier gegenüber
reserviert verhielt. Andererseits genoss Spier aber Vertrauen
und hohes Ansehen. So schrieb Liebknecht: „Ein famoser Kerl
hinter dem eine Menge steckt.“ [Vernehmungsprotokoll Spier;
NdsLA Wolfenbüttel]
Gerade dieser scheinbare Widerspruch den Spier verkörperte –
zielstrebiges Verfolgen einer veränderten Gesellschaftsstruktur,
auf der anderen Seite Ferne von jeder Radikalität – ist es, die
insbesondere seine politische Bedeutung ausmacht. Auch die Bitte
eines führenden Vertreters der Arbeiterbewegung an Spier, sich
in einer strittigen Angelegenheit an den Führer eines anderen
Flügels zu wenden, spricht für sich. Er hatte offenkundig eine
Mittlerstellung zwischen den einzelnen Strömungen der
Arbeiterbewegung und er hielt auch bewusst Gesprächskontakt zu
politischen Gegnern. Er war damit unzweifelhaft einer der
einflussreichsten Männer der frühen deutschen
Demokratiebewegung. Zudem war Spier ein gewandter, mit
Überzeugungskraft ausgestatteter Redner gewesen. Als
beispielsweise auf dem Elberfelder Gründungsparteitag der SDAP
Äußerungen Bebels einen Tumult unter den Delegierten auslöste,
gelang es Spier die Ruhe unter den Anwesenden wieder
herzustellen.
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Hoch- und Landesverräter
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Inhaltsverzeichnis der „Spezialakte Spier“ zur Anklage wegen
Hoch- und Landesverrats.
Repro: NdsLA Wolfenbüttel
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Der Grund für die zuvor genannte schadenfrohe Äußerung Bebels
über Spier steht im Zusammenhang mit dem Krieg von 1870/71. Die
Braunschweiger Parteiführung unterstützte nämlich zunächst den
Waffengang gegen Frankreich. Wer angegriffen wird, müsse sich
verteidigen dürfen, war ihre Einstellung. Bebel und Liebknecht
sahen die Situation anders – für sie waren die Kriegshandlungen
von Deutschland gewollt – und sprachen sich gegen einen
Waffengang „gegen Brüder“ aus. Es kam zu einem recht heftigen
Streit zwischen den beiden Lagern: Die SDAP drohte zu zerfallen;
Liebknecht stand kurz davor, alle seine politischen Aktivitäten
aufzugeben und auszuwandern. Als man sich nach dem Sieg bei
Sedan und der Gefangennahme Napoleons III. dann auch in
Braunschweig/Wolfenbüttel gegen die Weiterführung des Krieges
aussprach und am 5.9.1870 in einem denkwürdigen Manifest einen
sofortigen „ehrenvollen Frieden“ mit Frankreich forderte, waren
die Wogen wieder geglättet. Doch das Ereignis hatte in anderer
Hinsicht Konsequenzen.
Am 9. September 1870 wurden alle Mitglieder der Braunschweiger
Parteiführung verhaftet und nach Lötzen in Ostpreußen verbracht.
Die Verhaftungen verliefen entwürdigend. Es wurde beispielsweise
die Verrichtung der menschlichen Notdurft nur unter Beobachtung
gestattet und die Benachrichtigung von Familienangehörigen
verweigert. Wie Schwerstverbrecher in Ketten geschlossen, wurde
man auf offener Straße, von einer Militärpatrouille flankiert,
zum Bahnhof geleitet. Nur die Verhaftung Spiers, die in
Wolfenbüttel erfolgte, ging ohne öffentliche zur Schau Stellung
vor sich.
Im November erfolgte die Rückverlegung der Inhaftierten nach
Braunschweig. Das eingeleitete Gerichtsverfahren sollte ein
Tribunal gegen die Sozialdemokratie werden. Die Anklage lautete
auf Landesverrat; sie schrumpfte jedoch zum Vergehen gegen das
Versammlungsgesetz. Von der für Spier geforderten mehrjährigen
Freiheitsstrafe blieb im Urteil nur 2 Monate Gefängnis übrig.
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Rückzug
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Am 3. März 1871, Spier befand sich noch in Untersuchungshaft,
wurden Reichstagswahlen durchgeführt. Spier war für die SDAP als
Kandidat im Wahlkreis Wolfenbüttel-Helmstedt und dem sächsischen
Mittweida aufgestellt worden. Während er im Heimatwahlkreis
glatt durchfiel, erhielt er in Mittweida so viele Stimmen, dass
eine Stichwahl erforderlich wurde. In dieser unterlag er mit
4017 gegen 5430 Stimmen seinem Konkurrenten von der
Nationalliberalen Partei. Bemerkenswert ist noch, dass Spier
nach August Bebel die meisten Stimmen für die SDAP geholt hatte.
Gerade aus der Haft entlassen, hielt Samuel Spier am 15. Mai
1871 in Braunschweig vor rund 12000 Menschen eine Rede, dann
wurde es unvermittelt still um ihn. Er verließ Wolfenbüttel. Die
Umstände und Hintergründe dafür liegen völlig im Dunkeln. Es
wird sich vermutlich auch nie mehr eindeutig klären lassen,
warum sich Spier zurückzog. Ein einziger Klärungsansatz könnte
sein, dass Spier zu der Zeit mit einer ganzen Reihe
nervenaufreibender Privatklagen um sein Vermögen beschäftigt
war. Die Haft und insbesondere ein sehr kleinliches Verhalten
der Gefängnisleitung behinderte Spier in der Ausschöpfung seiner
Rechtsposition und brachte ihm erhebliche Vermögensverluste. „Ob
dadurch die Interessen Spiers geschädigt sind“, spekulierte
selbst Bracke über den plötzlichen Rückzug seines bisherigen
Kampfgefährten aus der politischen Arbeit, „vermag ich nicht
anzugeben.“ [W. Bracke, Der Braunschweiger Ausschuß der
socialdemokratischen Arbeiterpartei in Lötzen und vor dem
Gerichte]
Belegbar ist, dass Spiers Rückzug kein Rückzug von den
politischen Idealen war. Auf einer im März 1872 in Leipzig
abgehaltenen Gerichtsverhandlung gegen Bebel und Liebknecht, zu
der er als Zeuge geladen war und an der er über die gesamte
Prozessdauer teilnahm, bekannte er sich weiterhin zur
Sozialdemokratie. An seinem neuen Aufenthaltsort engagierte er
sich in der Konsumgenossenschaft, in der Frankfurter
sozialdemokratischen Zeitschrift »Volksstimme« erschienen noch
ein paar Artikel von ihm.
In Wolfenbüttel war es mit Spiers Weggang vorbei mit Aktivitäten
der Arbeiterbewegung und sonstigen erkennbaren Forderungen aus
der Arbeiterschaft. Auch um Braunschweig wurde es merklich
stiller. Wolfenbüttel/Braunschweig verschwand als Sitz der
Partei aus Mitteilungen. Bemerkenswert scheint noch, dass sich
nach dem Rückzug Spiers innerhalb der SDAP heftige Flügelkämpfe
entwickelten und eine deutliche Radikalisierung der politischen
Äußerungen zu verzeichnen ist.
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Wie ging es weiter mit Spier?!
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Für die Braunschweiger Behörden war er nach Frankfurt am Main
verzogen und hatte sich dort als Privatgelehrter niedergelassen.
In Wirklichkeit aber ging er nach Segnitz. Er übernahm hier die
Leitung des „Brüsselschen Instituts“, jener Internatsschule, an
der er bereits von 1862 bis 1864 als Junglehrer tätig gewesen
war. Bei der Meldung an das Schulamt datierte der bisherige
Internatsleiter Eichenberg den Eintritt Spiers vor und
verschwieg auch dessen Verurteilung. Eichenberg wollte Spier
also ganz offensichtlich vor Schwierigkeiten mit den
Landesbehörden schützen.
Dass man heute überhaupt Details aus Samuel Spiers weiterem
Leben weiß, ist dem Triester Schriftsteller Italo Svevo
(1861-1928) zu verdanken. Er war von 1873 bis 1878
Internatsschüler in Segnitz. Svevo hieß eigentlich Ettore
Schmitz, war österreichischer Staatsbürger deutscher Herkunft
und zählt zu den wichtigen Schriftstellern der modernen
Weltliteratur. Es sei hier lediglich auf seinen 1929 ins
Deutsche übersetzten Roman Zeno Cosini hingewiesen, in dem er
sich als Autor humorvoll-ironisch mit der Psychoanalyse
beschäftigte.
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Ansicht Segnitz
(© Hensel)
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Biografen Ettore Schmitz’ richteten ihr Interesse auf Spier,
nachdem deutlich wurde, dass „Herr Beer“, wie Spier von Schmitz
in seinen Tagebüchern genannt wurde, großen Einfluss auf seine
Persönlichkeitsentwicklung genommen hatte. In den Tagebüchern
wird Spier als ein gütiger und mit viel Sachkenntnis – besonders
in Bereich der Sozialwissenschaften – ausgestatteter Lehrer
beschrieben. Schmitz schreibt auch, dass er und seine Mitschüler
den Eindruck gehabt hätten, Spier habe sich in einer Art Exil
befunden und von etwas anderem geträumt, als in der fränkischen
Provinz Schuldirektor zu sein: Nie sei er ohne ein Buch gewesen,
in das er sich bei jeder Gelegenheit so sehr vertiefte, dass er
alles um sich vergaß. „Halomesperter“ (Traumpeter) war deshalb
sein Spitzname. „Er war ein Mann von vielleicht 40 Jahren und
trug immer einen langen schwarzen Gehrock. Ein blondes Bärtchen
ging vom Kinn aus und führte einen Rahmen um sein etwas holzig
wirkendes Gesicht mit der dünnen Nase und den glatten, blassen
Wangen; insgesamt ein regelmäßiges, einfaches Gesicht, das mit
Schreinerwerkzeugen gemacht schien. Er hatte üppige, lockige
Haare, dunkler als das Bärtchen und der Schnauzer. ... Ein Mann
von hoher Gestalt, durchdringenden Augen und einer Denkerstirn.
Ein sehr friedlicher Mensch, der ... nach Segnitz zu einer Art
Zwangsaufenthalt verbannt war.“ [Hensel, Gatt-Rutter; Italo
Svevo – Samuel Spiers Schüler]
In Segnitz verheiratete sich Spier mit Anna Kaufmann
(1852-1933). Sie war 14 Jahre jünger als er und stammte aus
Frankenthal. Aus der Ehe gingen mindestens drei Kinder hervor:
Am 3.11.1873 geboren, Tochter Maria Sara; sie wurde nur zwei
Jahre alt. Am 29.3.1875 geboren, Sohn Oscar Benedikt; er wurde
Rechtsanwalt, nahm sich während der Nazi-Herrschaft das Leben.
Am 24.11.1876 geboren, Tochter Elise Karoline; ihr Verbleib ist
unbekannt.
1881 erfolgte die Auflösung des Brüsselschen Institutes und
Spier zog mit seiner Familie nach Frankfurt am Main. Hier ist er
am 9.11.1903 gestorben. Ob er auch in Frankfurt begraben wurde,
und wo, ist unbekannt.
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Zum Nachlesen
* Eckert, Georg: 100 Jahre Braunschweiger Sozialdemokratie; Dietz Verlag,
Hannover 1965
* Fricke, Rudolf G. A.: Die Arbeiterbewegung in unserem Land; Elm-Verlag,
Cremlingen 1989
* Hensel, Hans Michael [Hrg.], John Gatt-Rutter: Italo Svevo – Samuel
Spiers Schüler; Zeno’s Verlag, Segnitz 1996
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