Julius Elster & Hans Geitel

(1854-1920)                              (1855-1923)

Lehrer in Wolfenbüttel - Physiker von Weltrang

außergewöhnliche Forschergemeinschaft

ungewöhnliche Lebensführung

© Rudolf G. A. Fricke

 

Originell in ihren Forschungsansätzen, originell in ihrem sozialen Verhalten und ihrem Freundschaftsbund beeinflussten sie in den rund vierzig Jahren ihres Wirkens (von 1880 bis 1920) physikalische Forschungen. In der Summe waren ihre wissenschaftlichen Leistungen so bedeutend, dass man sie sieben Mal für den Physiknobelpreis nominierte. Im Sog ihrer wissenschaftlichen Arbeit entstand in ihrem Umfeld ein ausgesprochen interessantes Geflecht an Wissenschaftlern und Instrumentenbauern und machte Braunschweig/Wolfenbüttel zu einem Zentrum wissenschaftlicher Erkenntnisgewinnung: Friedrich Giesel (Mitentdecker des Radiums, Erfinder der Radiumleuchtfarben, ...), Otto Walkhoff (Pionier der zahnmed. Röntgendiagnostik), Siegfried Loewenthal (Mitbegründer der med. Strahlentherapie), Glasbläser Richard Müller-Uri (Lennardsche Fensterröhre, Röntgens Kathodenstrahlröhren, ...), Günther & Tegetmeyer (Elektrometer, Photometer, Strahlungsmessinstrumente, ...).

Von der Luftelektrizität zur Radioaktivität

In ihren allerersten wissenschaftlichen Abhandlungen, die in den renommierten Wiedemannschen Annalen Aufnahme fanden, befassten sich Elster und Geitel mit der „Elektrisierung“ von Gasen durch thermische Einflüsse (1882/83) und Influenzerscheinungen in bewegten Flüssigkeiten (1884). Die Arbeit zur Elektrizitätsleitung in Gasen stand im Kontext der seinerzeit eine ganze Physikergeneration beschäftigenden Gasentladungsphysik. Das zweite Thema knüpfte unmittelbar an die Dissertation Elsters an, in der er sich mit elektrischen Erscheinungen durch Tröpfchenreibung befasst hatte. Aus einer Verbindung dieser beiden frühen Arbeiten entwickelten Elster und Geitel eine Modellvorstellung zur Entstehung der Gewitterelektrizität in Wolken (1884/85). Dadurch wurde der Österreicher Franz Serafin Exner (1849-1926) auf sie aufmerksam, der sich intensiv mit Fragestellungen zur atmosphärischen Elektrizität befasste. Er propagierte eine weltumspannende, einen langen Zeitraum abdeckende Erfassung luftelektrischer Verhältnisse. Nach seiner Überzeugung bedurfte es einer fundierten, breit angelegten Datenbasis, um Rätsel der atmosphärischen Elektrizität entschlüsseln zu können.

Elster und Geitel folgten seiner Anregung und begannen ihrerseits mit der systematischen Erfassung luftelektrischer Größen. Als eines ihrer Verdienste hierin ist eine deutliche Qualitätssteigerung der Datenerfassung zu sehen. Auch entwickelten sie ganz neue Instrumente für eine Erweiterung der Aufnahme luftelektrischer Größen. Beispielsweise erdachten und erprobten sie 1887 einen Apparat, mit dem man den Elektrizitätsgehalt von Niederschlägen bestimmen konnte. Mit ihren messenden Aktivitäten warfen sie zugleich Fragen auf, die sie mit ihren weiteren Forschungen zu beantworten suchten: Wie verlaufen Ladungsbewegungen in der Atmosphäre? Welcher Natur sind die Ladungsträger in der atmosphärischen Luft? Welcher „Mechanismus“ erzeugt elektrische Ladungsträger in der Atmosphäre? Ein ‘roter Faden‘ ihrer weiteren wissenschaftlichen Arbeit war gefunden.

Die von Elster und Geitel im Frühjahr 1888 zufällig erfolgte Beobachtung einer scheinbaren elektrischen Wirksamkeit von Sonnenlicht, die kurz zuvor von Wilhelm Hallwachs (1859-1922) mitgeteilte Beobachtung, dass eine negativ elektrisch geladene Zinkplatte entladen wird wenn ultraviolettes Licht auf sie fällt und der Versuch des Schweden Svante Arrhenius (1859-1927) Lichteinwirkungen zu einer theoretischen Erklärung von Elektrizitätsschwankungen in der Atmosphäre heranzuziehen, brachte die beiden Physiker dazu, sich intensiver mit dem lichtelektrischen Phänomen (Hallwachseffekt) zu befassen. Sie begannen die lichtelektrische Wirksamkeit von Stoffen, die im Oberflächenbereich des Erdkörpers verteilt sind, zu untersuchen. Aus der Notwendigkeit, dabei auftretende, störende Umwelteinflüsse auszuschalten, gelangten sie 1890 zur Konstruktion der technisch bedeutsam werdenden Photozelle. Elster und Geitel begründeten die lichtelektrische Bewertung von Lichtquellen und entwickelten Apparate für den Einsatz in der lichtelektrischen Photometrie. Mit Blick auf ihre Fragestellungen zur atmosphärischen Elektrizität mussten sie jedoch bald erkennen, dass eine lichtelektrische Begründung der entsprechenden Phänomene nicht zielführend war. Der entscheidende Durchbruch auf dem Gebiet gelang ihnen schließlich, als sie (1899) das in der Elektrolyse verwendete Ionenmodell auf die Elektrizitätsverhältnisse in der Atmosphäre übertrugen.

 Beziehungsgeflecht der wissenschaftlichen Forschungen von Elster und Geitel.

Die Bezeichnung Ion für kleinste elektrisch geladene Materieteilchen war in der Elektrolyse seit 1834 gebräuchlich. Eine entsprechende Deutung des Leitungsverhaltens von Gasen und damit letztendlich auch der atmosphärischen Luft setzte sich erst zur Jahrhundertwende durch. Elster und Geitel waren hieran mit den bereits angesprochenen und zwischen 1885 und 1889 fortgeführten Untersuchungen über das elektrische Leitungsverhalten von Gasen beteiligt. Zusammenfassend schrieben sie 1889 in einer Fachzeitschrift: „Hiernach ist im gewöhnlichen Zustande ein Gasmolekül einer Elektrisierung überhaupt nicht fähig, eine solche wird nur dann möglich, wenn entweder durch die Einwirkung elektrischer Kräfte selbst, oder durch andere Einflüsse ein Zerfallen der Moleküle in Atome stattfindet. Diese Atome sind als Bestandtheile der Moleküle mit entgegengesetzten Elektricitäten behaftet zu denken, ganz nach der Art der Ionen der Elektrolyte, und der Durchgang der Elektricität durch Gase vollzieht sich in derselben Weise, wie durch Elektrolyte.“

Auf der Suche nach dem Mechanismus, der in der Atmosphäre überall genügend viele Ionen erzeugt, fanden Elster und Geitel schließlich (1901) die Radioaktivität verantwortlich. Sie wiesen mit speziell von ihnen entwickelten Verfahren das allgemeine Vorhandensein eines radioaktiven Gases in der Atmosphäre nach. Als Quelle dieses Gases identifizierten sie im Erdreich enthaltene radioaktive Nuklide.

Das Phänomen der Radioaktivität für Erklärungen luftelektrischer Zustände heranzuziehen, war kein Zufall. Als sich nämlich eine zeitnah auf die Entdeckung der Röntgenstrahlung folgende Nachricht (März 1896) von der Entdeckung einer scheinbar ähnlichen, von Uranerzen ausgehenden Strahlung verbreitete, elektrisierte Elster und Geitel im wahrsten Sinne des Wortes die von dem Franzosen Henry Becquerel (1852-1908) mitgeteilte Beobachtung, dass diese ‘Uranstrahlung‘ der Umgebungsluft eine elektrische Leitfähigkeit zu erteilen vermag.

Während die Fachwelt noch ganz unter dem Eindruck der Röntgenschen Entdeckung stehend, wie gelähmt auf diese Mitteilung eines weiteren Strahlungsphänomens reagierte, vollzogen die beiden Wolfenbütteler Becquerels Versuche bereits Mitte April des Jahres an einem Stück Uranerz aus ihrer Mineraliensammlung nach. Sie fanden alle seine Beobachtungen bestätigt und sandten ein Exemplar ihrer Versuchsaufzeichnungen an W. C. Röntgen (1845-1923). Dieser schrieb erst am 23. Februar 1897 eine Antwort nach Wolfenbüttel: „Die Becquerelschen Versuche habe ich immer einmal nachmachen wollen, kam aber wegen Mangel an Zeit noch nicht dazu; ich muß nämlich gestehen, daß ich nicht recht daran glaubte. Was vielleicht daher kommt, daß die vielen Versuche mit X-Strahlen, die in letzter Zeit publiziert werden, mich etwas vorsichtig in der Annahme fremder Resultate gemacht haben. Es ist mir nun sehr wichtig, daß zwei so zuverlässige Beobachter wie Sie, die B'schen Beobachtungen bestätigt gefunden haben. Freilich will es mir nicht so recht in den Kopf …“

Aus den Zeilen klingt durch, dass Elster und Geitel als sorgfältige Experimentatoren geachtet waren. Es wird aber auch deutlich, wie groß die Verunsicherung, ja die ablehnende Haltung gegenüber dem neuen Strahlungsphänomen unter den Wissenschaftlern zunächst war. Eine Anerkennung der Existenz und Schwung in das weitere Forschungsgeschehen kam erst knapp zwei Jahre später auf, als mit Thorium, Polonium und Radium weitere, die Becquerelsche »Uranstrahlung« aussendende Körper gefunden wurden. Das Strahlungsphänomen wurde alsbald, einem Vorschlag der jungen Wissenschaftlerin Marie Curie (1867-1934) folgend, als Radioaktivität bezeichnet.

Personen wie Marie und Pierre Curie(1855-1906), Ernest Rutherford (1871-1937), Frederick Soddy (1877-1956), Stefan Meyer (1872-1949) werden heute als Pioniere der Radioaktivitätsforschung in Geschichtsbüchern genannt. Vergessen scheint, dass Elster und Geitel mit zu diesem Kreis der Pioniere gehörten. Letztendlich war es sogar ein Vortrag von Julius Elster vor einer Versammlung Naturforscher in Berlin 1899, der die deutschen Wissenschaftler auf Curies und das Phänomen der Radioaktivität aufmerksam machte. Ihr Braunschweiger Kollege, der Chemiker Friedrich Giesel (1852-1927), schrieb an Curie: „nun sind Sie jetzt hier ganz populär!“

Mit erkenntnistheoretischen Beiträgen, mit Forschungsprojekten und mit impulsgebenden Fragestellungen prägten Elster und Geitel sogar die Frühphase des Forschungsgeschehens zur Radioaktziität mit. So lenkten sie beispielsweise die Antwort auf die Frage nach dem Ursprung der Strahlung mit der Hypothese (1899), dass diese aus dem Atom selbst stammen müsse, in die entscheidende Richtung. Damit konnte das Atom nicht länger als kleinster Baustein aller Materie angesehen werden. Die Vorstellung zerfallender, dabei ihre Elementeigenschaft ändernder Atome war eine logische Folgerung daraus.

Etwa gleichzeitig zu dem englischen Physiker William Crookes (1832-1919) beobachteten Elster und Geitel eine Leuchterregung, die Strahlenteilchen beim Auftreffen auf Zinksulfidschirme hervorriefen (1903). Mit Hilfe dieser Entdeckung der Szintillation hatte man ein erstes Verfahren, die Aktivität radioaktiver Präparate zu bestimmen. Für die Zuordnung eines elektrischen Ladungszustandes der Strahlungskomponenten alpha und beta erwiesen sich Untersuchungen über ihr Verhalten im Magnetfeld als wichtig, zu der Elster und Geitel den Anstoß gaben (1899). Anerkennend schrieb Pierre Curie in einem Brief an Charles-Édouard Guillaume: „Elster und Geitel sind sicherlich diejenigen, die am besten über die Frage der Uranstrahlen gearbeitet haben (im Ausland!!) und es sollte mich nicht überraschen, wenn sie uns bald übertrumpfen.“[Elster et Geitel sont certainement ceux qui ont travaillé le plus proprement la question des rayons uraniques (à l’étranger!!) et je ne serais pas étonné s‘ils nous sortaient d’ici peu quelque chose de très bien.] Unter Einbeziehung der Beiträge zur Radioaktivitätsforschung, die Elsters und Geitels Braunschweiger Kollege Giesel lieferte, äußerte Pierre Curie an anderer Stelle sogar die Befürchtung, dass die zusammen mit seiner Ehefrau Marie getätigten Forschungen in den „Fluten der deutschen Produktion ertrinken“ könnten.[Nous prévoyonsque, d’ici peu, nos proprestravaux seront noyés dans les flots de la production allemande.]

Bei der Auseinandersetzung mit dem 1896 entdeckten Phänomen der Radioaktivität gingen Elster und Geitel weit über geophysikalische Fragestellungen hinaus. Als Erste interpretierten sie die Strahlung als Ergebnis von Atomzerfallsprozessen und postulierten eine Zerfallskette radioaktiver Elemente. Viele Erkenntnisse zu den Grundlagen der Radioaktivität wurden von ihnen ermittelt, Fragestellungen aufgeworfen, Forschungsprojekte angestoßen. Beispielsweise setzten sie die Erdwärme zum Radiumgehalt der Erde in Beziehung; ihre Beobachtungen einer „Reststrahlung“ führten andere Wissenschaftler zur Entdeckung der kosmischen Strahlung.
Wegen der erworbenen Kompetenz auf dem Gebiet der ionisierenden Strahlung wurde Hans Geitel (zusammen mit Otto Hahn) als Vertreter Deutschlands in die 1910 erstmals tagende Radium-Standard-Kommission berufen.

Sonstiges: - Elektrizitätsleitung in Gasen
                  - „Erfinder” (1904 John Ambrose Fleming) der Glühkathodendiode
                  - Entwicklung und konstruktive Verbesserung zahlreicher naturwissenschaftlicher Apparate:
                     Flammensonde, Blättchenelektrometer mit Spiegelskala und Lupenablesung, Ein- u. Zweifadenelektrometer,
                          Luftelektrischer Zerstreuungsapparat, Wasserinfluenzmaschine, Hochfrequenztransformator, ...

Kastor und Pollux der Naturwissenschaft

Elster und Geitel bildeten eine in der Geschichte der Naturwissenschaft einzigartige Forschergemeinschaft, von der es unmöglich erscheint, die Anteile jedes einzelnen an dem wissenschaftlichen Gesamtwerk besonders herauszuarbeiten. Geitel selbst äußerste sich einmal gegenüber dem Naturwissenschaftshistoriker Edmund Hoppe, dass er nicht sagen könne, wer von ihnen beiden an einem der verschiedenen Forschungsprojekte einen neuen Gedanken zuerst gehabt habe oder wessen Arbeitsbeitrag größer gewesen sei.

Als regelmäßige Teilnehmer von Naturwissenschaftlertagungen, interessierte Besucher von Fachausstellungen, Leser einschlägiger Fachzeitschriften, Mitglieder in Wissenschaftlerverbänden sowie durch den persönlichen Kontakt zu international bekannten Wissenschaftlern und Ingenieuren waren sie zumeist gut über die neuesten Erkenntnisse und Entwicklungen informiert. In rund vierzig Jahren gemeinsamer Forschertätigkeit haben Elster und Geitel knapp zweihundert Abhandlungen veröffentlicht. Nur wenige dieser Veröffentlichungen weisen einen von beiden allein als Verantwortlichen aus. Abgedruckte Vorträge oder Beiträge, die nur Elster oder nur Geitel als Autor ausweisen, enthalten zu Beginn der Ausführungen immer einen Hinweis darauf, dass es sich um gemeinsam angestellte Untersuchungen handelte.

Schon bald nach ihren ersten wissenschaftlichen Veröffentlichungen war man in der Fachwelt auf die beiden Physiker aufmerksam geworden. Die namhaftesten Wissenschaftler der Zeit traten mit Elster und Geitel in den Gedankenaustausch. In- und ausländische naturwissenschaftliche Gesellschaften ernannten sie zu ihren Ehrenmitgliedern, Hochschulen verliehen ihnen die Ehrendoktorwürde. Obwohl ihnen angesichts ihrer wissenschaftlichen Leistungen mehrfach Hochschulen eine Professorenstelle anboten, zogen sie die bescheidener anmutenden Arbeitsbedingungen in der wissenschaftlichen Provinz Wolfenbüttel vor.

 

Ebenso bemerkenswert wie ihre wissenschaftlichen Forschungsarbeiten ist der Lebensweg dieser beiden Persönlichkeiten.

Julius Elster wurde am 24. Dezember 1854 in Blankenburg a. H. geboren. Hans Geitel, am 16. Juni 1855 in Braunschweig geboren, kam 1861 als Sechsjähriger aufgrund der beruflichen Verpflichtung seines Vaters nach Blankenburg. Die Familie Geitel bezog dort ein Wohnhaus dessen Grundstück unmittelbar an das der Familie Elster grenzte. Zwischen den so zu Nachbarn gewordenen Jungen Hans und Julius entwickelte sich im Laufe der Zeit eine feste freundschaftliche Beziehung. Bis zu ihrem Tode gingen sie als unzertrennliches Freundesgespann durchs Leben: Sie besuchten dieselben Schulklassen, studierten an gleicher Stelle bei denselben Hochschullehrern, ergriffen den gleichen Beruf und waren ab 1880 gemeinsam am Wolfenbütteler Gymnasium Große Schule als Lehrer tätig.

1886 heiratete Julius Elster und bezog mit seiner Frau eine Villa ganz in der Nähe der berühmten Herzog-August-Bibliothek gelegen. Wie selbstverständlich erhielt auch Geitel, der bis kurz vor seinem Tode unverheiratet blieb, in dem Haus eine Wohnung. Im Keller des Wohnhauses richteten sich die beiden Jugendfreunde ein komfortables Privatlabor ein.

1919 erkrankte Julius Elster so schwer, dass er sich vom Schuldienst suspendieren lassen musste. Man diagnostizierte Diabetes mellitus. Für die Menschen in seinem privaten Umfeld völlig unerwartet, starb er am 8. April 1920 während eines Kuraufenthaltes in Bad Harzburg. Hans Geitel folgte seinem Alter Ego am 15. August 1923.

                         

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