Loewenthal, Siegfried (Shaul)

 

geb. 1869 in Guttentag, Kreis Oppeln

gest. Juli 1951 in Ramoth Hashavim (Israel)

 

Neurologe, Mitbegründer der medizinischen Strahlentherapie

     
© Rudolf G. A. Fricke      
               

Siegfried Loewenthal war das jüngste von neun Kindern einer in Guttentag ansässigen Kaufmannsfamilie. Mit finanzieller Unterstützung eines älteren Bruders wurde es ihm möglich, nach dem Schulbesuch ein Medizinstudium aufzunehmen: Würzburg, Berlin, München, Breslau. Er arbeitete nachfolgend als Assistent an den Nervenkliniken in Breslau bei Carl Wernicke (1848-1905)[1] und in Frankfurt a.M. bei Ludwig Edinger (1855-1918)[2].

 

Am ersten Studienort, Würzburg, hatte er den Kunststudenten Max Dauthendey (1867-1918)[3] kennen gelernt, der zu ihm eine schwärmerische Freundschaftsbeziehung aufbaute. Die Beziehung wurde für Loewenthal offenbar so erdrückend, dass er schließlich (1892) sehr deutlich den Kontakt zu Dauthendey abbrach und sogar den seinerzeitigen Studienort Berlin verließ, um Distanz zu ihm zu bekommen. 


Nach der Assistentenzeit, erfolgtem Arztexamen und seiner Promotion, ging Siegfried Loewenthal 1896 an der Deutschen Drogisten Akademie in Braunschweig in Anstellung.[4] Eine Wohnung bezog er im Haus Bruchthorpromenade 12. Einige Zeit später eröffnete er eine eigene Praxis als „Spezialarzt für Nervenleiden“, nebst einer „medika-physikalischen Kuranstalt“ am Lessingplatz. Seine Privatwohnung hatte er jetzt in unmittelbarer Nachbarschaft, am Siegesplatz[5]. Der letzte und längste Wohnsitz war dann Löwenwall 23.

In dieser Zeit auch, erfolgte die Heirat mit Josefine Erlanger (geb. 1871 in Frankfurt a.M.), einer Schwester des Malers Philipp Jacob Erlanger (1870-1934)[6]. Den Eheleuten Loewenthal wurden zwei Kinder geboren: Tochter Charlotte, 1899  und Sohn Erich, 1905. Charlotte (gest. 1958) wurde selbst Ärztin (Kinderheilkunde) und heiratete den Arzt Hans Sigismund (Chanan) Steinitz (1902-1986), der in der Praxis ihres Vaters arbeitete. Auch der Sohn (gest.1959) studierte Medizin.

 

Schon nach relativ kurzer Zeit waren Lowenthals in der Braunschweiger Gesellschaft bekannt. Ihre Wohnung geriet zu einem Zentrum der Geselligkeit, in dem sich Künstler und Wissenschaftler jeder geistigen Richtung zwanglos trafen. Zudem engagierte sich Siegfried Loewenthal in regionalen Bürger- und Fachvereinen. Nach 1918 findet man ihn am Aufbau einer Jugendfürsorge beteiligt. Im April 1919 ist er der Initiator eines mehrtägigen Ärztestreikes, der eine Gegenwehr zu dem Versuch von Spartakisten war, den jungen Freistaat Braunschweig in eine Räterepublik zu verwandeln.

 

Sein Ansehen im gesellschaftlichen Bereich findet seine Entsprechung im Ansehen, das er als Nervenarzt genoss. Dies weit über die Grenzen Braunschweigs hinaus. Auch hier ist er in diversen Ärzteverbänden aktiv. Beispielsweise gehörte er zu den Gründungsmitgliedern des Verbandes »Kraftfahrender Ärzte«. Wegen seiner unbestrittenen Kompetenzen auf dem Gebiet der Neurologie berief ihn das Herzogliche Kriegsministerium kurz nach Beginn des Ersten Weltkrieges zum Berater für nervenärztliche Problemstellungen. Damit verbunden war die Aufgabe, Soldaten mit neurologischen Kriegsschäden medizinisch zu betreuen. Für die geleistete Arbeit wurde er 1918 mit dem »Eisernen Kreuz am weiß-schwarzen Bande« ausgezeichnet.[7]

 

Loewenthals Interessen als Mediziner gingen weit über die Neurologie hinaus. Er befasste sich beispielsweise mit der Röntgentiefentherapie[8], einer Methode zur lokalen Schmerzbehandlung, er experimentierte mit innengefilterten Röntgenröhren und harter Röntgenstrahlung, führte Ganzbestrahlungen aus. 

Zwischen 1906 und 1914 gehörte sein medizinisches Augenmerk der Radioaktivität, speziell der Entwicklung von Strahlentherapien in der Balneologie. Fußend auf eigenen Forschungsprojekten publizierte Loewenthal Fachbeiträge zu Bäder- und Inhalationskuren mit Radium und Radium-Emanation (Radon), gab ein umfassendes Buch zur Radiumtherapie und der biologischen Radiumforschung heraus. Als profilierter Pionier der medizinischen Strahlenforschung war er Mitherausgeber der Fachzeitschrift »Die Strahlentherapie« und gehörte er zu den Gründungsmitgliedern der Berliner Radiologen-Gesellschaft. Seine exponierte Position in der medizinischen Strahlenforschung mag vielleicht auch daran abzulesen sein, dass die 1912 tagende Internationale Radium Standardkommission seinem Vorschlag folgte, die Maßeinheit für ein neu definiertes Strahlungsstandart »Curie« zu nennen.

 

Um dem in Kuranstalten betreuenden Personal den Emanationsgehalt eines Therapieraumes anzuzeigen, konstruierte er ein „Emanoskop“. Es funktionierte mit einem pfiffig erdachten Gegenspiel zweier Strahlungsquellen. Auf der einen Seite sorgte die anzuzeigende ionisierende Strahlung aus der Raumluft für die Aufladung eines Elektroskops, auf der anderen Seite entlud die Strahlung einer eingebrachten radioaktiven Substanz das Elektroskop. Waren beide Strahlenwirkungen einmal aufeinander abgestimmt, befand sich das Elektroskop in einem stabilen Ladungszustand. Veränderte sich nun der Emanationsgehalt der Umgebungsluft, veränderte sich auch das Gleichgewicht der Strahlenwirkung am Instrument und damit der angezeigte Ladungszustand.

Loewenthals Strahlenforschungen erfolgten in engem wissenschaftlichen Kontakt zu dem Braunschweiger Radiochemiker Friedrich Giesel (1852-1927) und den in Wolfenbüttel lebenden Physikern Julius Elster (1854-1920) und Hans Geitel (1855-1923). Man kannte sich vom Braunschweiger Verein für Naturwissenschaften – Familie Giesel gehörte zudem auch zum privaten Freundeskreis. Zusammen mit den Ärzten Otto Walkhoff (1860-1934) und Alfred Sternthal (1862-1942), dem Physiker Karl Bergwitz (1875-1958) und den Instrumentenbauern Günther & Tegetmeyer sowie Richard Müller-Uri (1859-1929) und Louis Müller-Unkel (1853-1938) bildete man einen Spezialistenkreis, der Braunschweig/Wolfenbüttel zu einem Zentrum der frühen Forschungen auf dem Gebiet der Ionisierenden Strahlung machte.

  Mitglied im Verein für Naturwissenschaft Braunschweig ab Nov. 1896

  Vortragsaktivitäten im Verein:

  02.12.1897   Altes und Neues über Phrenologie

  03.11.1898   Über einige neuere Eiweißpräparate

  12.12.1901   Üeber Wärme als Heilmittel

                       und Vorführung eines von ihm erfundenen Heißluftapparates

  05.12.1907  Über die Radioaktivität der Heilquellen

  17.12.1907  Über die Verwendung der Radiumemanation in der Heilkunde

  04.11.1909  Neuere Arbeiten über medizinische Anwendungen des Radiums

  15.12.1910  Bericht über den Internationalen Kongreß für Radiologie
                      und Elektrizität in Brüssel

  15.12.1910  Die Fortschritte der Radiumtherapie

  19.10.1911  Fortschritte der biologischen Radiumforschung

  06.11.1923  Einfluss von Klima und Witterung auf die Gesundheit

  16.01.1930  Erinnerungen an Prof. Dr. F. Giesel

                   

Angesichts der sich epidemisch verbreitenden Anhänger des Nationalsozialismus, die für die jüdischen Familien im Lande das Leben immer unerträglicher machten, emigrierten Loewenthals im November 1935 nach Palästina. Siegfried Loewenthal setzte hier unvermittelt sein ärztliches Engagement fort und beteiligte sich beispielsweise in Tel Aviv am Aufbau einer radiumtherapeutischen Praxis. Im Juli 1951 starb Siegfried Loewenthal in Ramoth Hashavim.

Veröffentlichungen

 *    Über die Einwirkung von Radiumemanation auf den menschlichen Körper; Physikalische Zeitschrift, 7. Jg. (1906), Nr. 16, S. 563-564

*     Laquer, A., Loewenthal, S.: Über die Aufnahme von Radiumemanation bei Bade- und Trinkkuren; Münchner medizinische Wochenschrift, 1907, S. 2162

*     Über Bestimmung der Quellemanation; Verhandlungen d. deutsch. Natf. und Ärzte, Dresden 1907

*     Über die Wertschätzung von Heilquellen auf Grund ihrer Radioaktivität; Zeitschrift für Balneologie, 3 (1908)

*    Loewenthal, Edelstein: Beeinflussung der Autolyse durch Radiumemanation; Biochemische Zeitschrift, 14 (1908), S. 484f

*     Über den Brunnenrausch; Medizinische Klinik, 14 (1908), 10 Seiten

*     Loewenthal; Wohlgemuth: Einfluss der Radiumemanation auf die Diastase; Biochemische Zeitschrift, 21 (1909), S. 476f

*     Demonstrationen zur Emanationstherapie; Medizinische Klinik, 16 (1910), S. 629f

*     Über Meßmethoden und Einheiten in der biologischen Radiumforschung; Physikalische Zeitschrift, 12. Jg. (1911), Nr. 4, S. 143-147

*     Über die Indikationen der Radiumtherapie bei inneren Krankheiten; Die Strahlentherapie, 1 (1912), S. 12-16

*     Grundriss der Radiumtherapie und der biologischen Radiumforschung; Wiesbaden, Verlag J. F. Bergmannn, 1912

*     Gudzent, F.; Loewenthal, S.: Ueber den Einfluss der Radiumemanation auf den Purinstoffwechsel; Zeitschrift für klinische Medizin, Bd. 71, Heft 3 – 6

*     Über die Wirkung der Radiumemanation auf den menschlichen Körper; Berliner klinische Wochenschrift, 46 (1906), 35 (1907), 3 (1908), 7 (1910)

*     Über Schwerfiltertherapie; Die Strahlentherapie, 5 (1915), S. 195-198

*     Über sekundäre Elektronenbildung; Die Strahlentherapie, 5 (1915), S. 199-204

*     Curie-Umrechnungsfaktor für das Kohlrausch-Loewenthalsche Fontaktoskop; Die Strahlentherapie, 1916?

*     Radiumtherapie und biologische Radiumforschung; Die Strahlentherapie, 1916?

*     Schwerfiltertherapie; Die Strahlentherapie, 1916, V, 195 ff

*     Geschichte der Familie Lessing – Mit biologischen Bemerkungen; Leipzig, Kommissionsverlag Degener& Co., 1929

*     S. Loewenthal, H. Probst: Über den Eisengehalt der malignen Tumoren und seine Bedeutung für die Strahlentherapie, 1935

*     Fortschritte auf dem Gebiete der Röntgenstrahlen; Hrg. Deutsche Röntgen Gesellschaft 1897-1944

Quellenangaben:

* Bilzer, Bert und Moderhack, Richard (Hrsg.): BRUNSVICENSIA JUDAICA. Gedenkbuch für die jüdischen Mitbürger der Stadt Braunschweig 1933–1945.
 in: Braunschweiger Werkstücke. Band 35, Braunschweig 1966.

* Osthoff, Daniel (Hrsg.): Max Dauthendey. Briefe an seine Jugendfreunde 1890–1892, insbesondere an Siegfried Löwenthal [sic!]; Würzburg 1993.

* NN: Zum Gedenken an Dr. Siegfried Löwenthal; Braunschweiger Ztg., 16.12.1951

* Pagenstecher, Alexander: Dr. Siegfried Löwenthal † 1869-1951; Braunschweig, 1965

* Pagenstecher, Rudolf Alexander: Ärzteverein Braunschweig 1826-1966; Braunschweig 1966, S. 45-46

* Briefe (Typoscript) 23.7.1911 und 31.7.1911 an Stefan Meyer (Radiuminstitut Wien), die Einführung der Einheit „CURIE“ betreffend;
 Archiv der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Institut für Radiumforschung K.22.